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fromm aus Geist oder Geschmack, er war fromm aus Naturtrieb, einfach
so, weil er sich’s nicht anders denken konnte.
Es ist ja mit den englischen Präraphaeliten, die doch gewiss
jedem modernen Menschen imponieren, genau dasselbe wie mit den
Nazarenern. Was für diese Fiésole, das ist für jene Boticelli. Aber
da heisst es dann immer »O ich bitte, das ist ganz etwas anderes,
die Präraphaeliten nehmen bloss die Formen von Boticelli, aber ihr
Geist ist durchaus originell, weil modern. Boticelli ist ja sehr heiter, sehr
naiv, Boticelli ist überhaupt ganz etwas anderes«. Ja um Gotteswillen,
warum ist denn dann Boticelli so ursprünglich ein grosser Künstler
geworden und vor allem, warum hat denn für Herrn Muther, der
in seiner Geschichte der modernen Malerei die obenerwähnte feine
Unterscheidung zwischen Präraphaeliten und Nazarenern macht, von
allen den alten Künstlern Boticelli das grösste Interesse? Boticelli muss
doch modern sein, wie käme denn sonst gerade er dazu, durch die
moderne Geschmacksumwertung so riesig zu profitieren, auf einmal
ein Grösster zu werden, er, der doch früher kaum mehr war als die
kleinen gleichgiltigen Raphaelschüler Giulio Romano, il Fattore etc.
Gewiss, Boticelli ist genau so modern für unsere Zeit, als es Fiésole
für die Zeit der Romantik war, und die hochmodernen Präraphaeliten
sind genau so von ihm abhängig wie Nazarener von Fiésole oder
den Quinquecentisten, um kein Haar mehr und um kein Haar weniger.
Das ist aber keine Schande für die Präraphaeliten und auch keine
für die Nazarener. Es kommt eben nur darauf an, wie man’s nennt,
Nachahmer oder Wiedererstandene. Muther verwendet in geschmack-
voller Abwechslung beide Bezeichnungen, indem er in Burne-Jones
einen neuerwachten Boticelli, Duccio, Bellini, Mantequa, Mosaikkünstler
von Ravenna, Giorgione, Parmeggianino, Pallajuolo, Verrocchio,
Perugino, Luini und etruskischen Vasenmaler bewundert, während er
sich furchtbar erhaben fühlt über den farblosen Imitator Cornelius,
für den er aber bisher leider nur ein Modell ausfindig machen konnte,
nämlich Michel Angelo. Er soll die Sache mal umdrehen, da klingt’s
noch viel besser: der Nachahmer mit den vielen Vorbildern.
Aber das ist ja gleichgiltig. Ich glaube, Burne-Jones würde sich
für die Mehrzahl dieser Vorbilder schönstens bedanken. An dem einen
Boticelli hat er schon mehr als genug, ebenso wie Cornelius an seinem
Michel Angelo, mit dem er übrigens viel weniger zu thun hat, als
Herr Muther zu glauben scheint. Gerade an Cornelius könnte man
sehr gut zeigen, dass, wenn zwei Künstler genau dasselbe malert, es
noch lange nicht dasselbe sein muss. Da ist in der Ludwigskirche
ein Gottvater, in der Pose wie abgezeichnet von dem Michel Angelos
in der Sixtina. Und doch gehört eine fabelhafte Verständnislosigkeit
dazu, den einen eine blosse Copie des andern zu nennen. Hier der
ewig ruhige, weissbartige Weltenvater, mit dem tiefen durchdringenden
Blick, so vielleicht wie ihn ein Giotto mit den technischen Errungen-
schaften des Quinquecento gemalt hätte, und dort ein donnernder Titane,
ein Weltenbildner und -Vernichter aus eigenem schrankenlosen Herren-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 769, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0769.html)