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willen. Das sind zwei Wesen, die gar nichts miteinander zu thun haben,
dieselbe Form, aber zweierlei Geist.
Und da sind wir jetzt glücklich bei dem angelangt, was Muther
von Burne-Jones sagt, nur gilt es jetzt leider von Cornelius. Man
sieht, es fällt nicht so schwer, die Sache umzudrehen und käme man
dann gar erst auf die Campo Santo-Fresken in Berlin zu sprechen, das
himmlische Jerusalem, die klugen und thörichten Jungfrauen etc. etc.,
ich glaube, Herr Muther würde sich allmählich selbst wundern, wie so
durchaus unmichelangelosk dieser geistlose Cornelius sein kann, dessen
ganze Kunst doch nur ein wesenloser Nachklang Michel Angelos sein
soll. Mir hat einmal ein Künstler, der die ganze nazarenische Bewegung
mitgemacht und Führich, Cornelius, Overbeck und alle die anderen
persönlich gekannt hat, gesagt, Cornelius habe eigentlich von allen
am weitesten zurückgegriffen, auf Giotto nämlich. Mir persönlich
kommt diese Anschauung viel plausibler vor als die Muthers, jeden-
falls geht sie mehr von dem Wesentlichen in Cornelius’ Kunst aus.
Übrigens sind diese Dinge alle sehr compliciert, Michel Angelo
hat ja jedenfalls selbst eine gewisse Verwandtschaft mit Giotto, der
neben ihm der männlichste Meister der italienischen Kunst ist, und
wäre selbst Giotto und nicht Michel Angelo Cornelius’ alleiniges Vor-
bild gewesen, so wäre damit für die Wertschätzung seiner Indivi-
dualität noch nichts gewonnen. Einen gleichgestimmten Meister in der
älteren Kunstgeschichte hat er ja jedenfalls gehabt, und es liegt mir
nichts ferner, als das zu bestreiten. Aber welcher Künstler hätte denn
das nicht, wer kann von sich selbst sagen: »Ich habe etwas ganz
neues in die Welt gesetzt, das durch keinen zeugenden Faden mit
der älteren Kunst zusammenhängt?« Giotto ist vielleicht der Einzige,
aber Giotto ist auch der erste grosse Maler, den die christliche Cultur-
welt der germanisch-romanischen Völker hervorgebracht hat. Und doch
ist Giotto von Dante, Dante vom hl. Bernhard und Bernhard vom
Christenthum abhängig. Einen einzelnen originellen Maler gibt es eben
überhaupt nicht, es gibt nur originelle, nationale Culturen. Die alt-
ägyptische, die indische, classische, mohamedanische und die christlich-
germanische sind solche originelle Culturwelten und alle starken Indi-
vidualitäten, die es gegeben hat, sind von einer solchen abhängig,
sind nichts als ein hundertfach concentriertes Extract derselben.
Es wäre gewiss mehr als naiv anzunehmen, dass die Nazarener,
wenn sie auf ihren Reisen durch Italien zufällig statt Fiésole Tizian
angetroffen hätten, Coloristen im Sinne der Venezianer geworden
wären. Im Gegentheil, hätten sie auch nie ein Bild von Fiésole
gesehen, der Geist ihrer Kunst wäre ganz so geworden, wie wir ihn
jetzt kennen.
Das ergibt aber die unleugbare Erkenntnis, dass wir es hier mit
Malern zu thun haben, die über den Vorwurf einer blossen Nach-
ahmung weit erhaben sind, weil eine solche Nachahmung im grossen
Stil ohne elementaren Hintergrund in der Kunst einfach undenkbar ist.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 770, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0770.html)