Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 771

Literarische Erwerbsverhältnisse (Grossmann, Stefan)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 771

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LITERARISCHE ERWERBSVERHÄLTNISSE.
Von STEFAN GROSSMANN (Wien).

»Die Dichter sind ihrer Herkunft nach nicht vom sesshaften,
steuerzahlenden Stamme. Vagabundenseelen sind sie, verwandt mit
den Leierkastenmännern. Ach, sie sind ja nicht Hausbesitzer und
Gewerbetreibende, sie halten kein Comptoir; sie arbeiten, wenn
Gottes Gnade sie überkommt. Ein Dichter verbirgt niemals knauserig
seine guten Einfälle bis zu seinem nächsten Buche; in einem Scherz
beim Glase vergeudet er sein Gold oder in einem Liede unter dem
Balkon der Damen. Das thut der Dichter. Er geht von Hof zu
Hof, er bekommt in Gottes Namen einen Schilling, und er bückt
sich und senkt den Hut. Das thut er. Und kommt die Nacht, so
fällt er auf der Treppe in Schlaf, oder er geht in den Wald, oder
er wandert hinein in die Berge. Und für seinen Blick sind es keine
Berge mehr, es sind Zelte für Könige, Königszelte. Und er schlägt
den Mantel um sich und tritt in sein Zelt. Der Himmel ist hoch
und ruhig, und die Sterne wohnen da droben, und er hat das
Gefühl, dass der grosse Weltengott wohl für seine Nachtruhe sorgen
werde, ob er auch nur ein kleiner Mensch ist, ein Dichter
Für alle stimmberechtigten Bürger des Landes aber ist es ein ewiges
Wunder, wie dieser Mensch sein Leben erhält.

Das ist der Dichter. Es ist eine sociale Position, die wohl
Keinen verlockt. Denn er hat kein Geld durch sein Talent zu-
sammengescharrt, und er ist ein wurzelloser Mensch, ein Vagabund
ohne Pass « Knut Hamsun .

Vor mir liegt das neueste literarische Adressbuch von Kürschner.
Ich schlage es nicht auf, sondern sehe nur hin, wie dick es geworden
ist. Wie viel tausende, zehntausende Namen! Über die Erwerbs-
verhältnisse dieser Leute — ein paar Worte. Also nicht etwa über die
Erwerbsverhältnisse der Dichter! Dichter haben keine »Erwerbsver-
hältnisse«. Ihre ökonomische Existenz ist gewöhnlich ein Wunder, oder sie
beruht auf einem nicht-literarischen Terrain. Knut Hamsun war Eisen-
bahnconducteur, Strindberg war Photograph, Paul Verlaine lebte dann
und wann von seinen Honoraren, öfter von den communistischen Ansichten
seiner Schüler. Nein, die Leistungen der genialen Naturen haben mit
ihren Erwerbsverhältnissen nichts zu schaffen. Schopenhauer hätte
schwerlich von den zwei Auflagen seines Werkes, die er erlebte,
seinen Unterhalt fristen können. Vermuthlich lebte auch Emerson
nicht vom Ertrag seiner Essays, Maeterlinck desgleichen Das
Genie setzt neue Werte ins Leben, das können keine Markt-
werte sein.

Hingegen der Schriftsteller hat das Bestreben, den höchsten
bestehenden Marktwert zu erreichen. Schriftsteller sein, heisst ja aus
dem Schreiben ein Gewerbe machen, heisst: schreiben müssen, um

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 771, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0771.html)