Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 774
Literarische Erwerbsverhältnisse Weltgefühl (Grossmann, StefanSsologub, Fjodor)
Text
Wo solche Leser bestehen, darf man es den Autoren nicht ver-
denken, wenn sie jetzt alle dramatischen Talente in sich entdecken
Dort liegt die geringere Prostituierung.
Übrigens verübelt man es keinem socialistischen Arbeiter, wenn
er in einer Gewehrfabrik arbeitet, man nimmt es keinem Schuster
übel, wenn er für seine Fabrik Schleuderarbeit macht Nur der
Schriftsteller muss alle seine Stiefel mit Überzeugung oder gar
Inspiration machen! Zum Teufel, die Schriftstellerei ist kein Beruf,
sondern ein Erwerb. Warum soll es dem Literaten nicht gestattet sein,
in Gottesnamen, Schund zu schreiben, wenn er verlangt wird? Man
gönne dem Literaten, wie jedem andern Lohnarbeiter, eine einträgliche
Tagesarbeit, mit einem revolutionären Abend. An diesen Abenden
wollen wir dann, meinetwegen, von den Werken der Dichter reden!
WELTGEFÜHL.
Von FJODOR SSOLOGUB.
Ich lieb’ meine finstere Erde,
Und im Ahnen des baldigen Scheidens
Trink ich Freuden mit froher Geberde,
Und — ergeben — die Schale des Leidens.
Nichts verstoss’ ich von Gaben des Lebens,
In Allem wohnt Freude und Jubel —
Grosse Kälte im heiligen Streben,
Kühnes Träumen im Alltagsgetrubel.
Ich beug’ mich dem Geiste des Werdens,
Mit ihm ist mein Dasein verschlungen;
Mir ist in der Pracht seiner Erden
Die Einheit des Weltalls erklungen.
Übersetzt von Alexander Brauner.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 774, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0774.html)