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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 775

Text

MASKEN UND GÖTZENBILDER.
Von ELIE RECLUS (Brüssel).
Übersetzt von Marie Lang.
(Schluss.) IV.

Man erinnert sich, dass in dem Friedensvertrage, welcher durch
Vermittlung eines Zauberers zwischen Abgeschiedenen und Lebenden
geschlossen worden war, festgesetzt wurde, dass diese jene zu ernähren,
und der Reliquie und dem Geiste, welcher sie bewohnt, eine Stätte
zu sichern hätten. Sprechen wir nun von dieser Ruhestätte.

Ohne die Möglichkeit sich zu ändern, behielten die Schatten die
Gewohnheiten bei, welche sie in ihrem ersten Dasein angenommen hatten.
Diejenigen, welche als Jäger oder Fischer in Gemeinschaften gelebt
hatten, hausten nach ihrem Tode in Büschen und Felsspalten oder im
Gesträuch, gleich Krähen oder Tauben. Bei den Waldbewohnern nistete
der Schwarm der Abgeschiedenen auf einem heiligen Baume. Der
grosse Ahnherr hielt sich in der weiten Höhle des Stammes auf,
die Helden, seine Söhne, auf den dicken Ästen, die Nachkommenschaft
bevölkerte die Zweige, jeder hatte ein Reislein. — Aber bei den acker-
bautreibenden Völkern wollte jeder einstige Familienvater einen Winkel
Erde haben, der ihm und keinem anderen zugehören sollte.

Anfänglich kosteten diese Stätten kaum etwas, es waren belaubte
Zweige, das Linnen oder ein Stück Stoff, das man dem Sterbenden
über das Gesicht gebreitet hatte, nachdem man es an dem geweihten
Baume aufgehängt hatte. Wenn dieser Baum fehlte, hieng man den
Lappen an einen Pfahl oder pflanzte Stangen auf mit einem Tüchlein
an der Spitze. Frisch und im Winde flatternd, bequem als Beobachtungs-
posten, benagten diese luftigen Behausungen den Schatten, welche sich
auf den die Meere und Flüsse entlangziehenden Schiffen in Tauen und
Wimpeln schaukeln.

Aber vor den Tüchern und Stoffen hatte man das Antlitz des
Todten mit Baumrindenstücken, dann mit dünnen Holzplatten bedeckt.
Als diese Holzplatten einen deutlicheren Charakter annahmen, gestalteten
sie sich natürlicherweise nach der Grundform dessen, was sie ver-
bergen sollten. Jeder wusste, dass der Todte dahinter war und mit
gierigen, furchtbaren Augen dreinschaute. Da alle Welt an diese Augen
dachte, zeichnete man sie rund, übermässig gross, beunruhigend und
unheimlich. Derart sieht man sie auf zahlreichen alten, etruskischen
oder griechischen Vasen. Weil der Todte nach Beute schnob, zeichnete
man auf das Brett weit geöffnete Nüstern ein und einen aufgesperrten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 775, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0775.html)