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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 776

Text

776 RECLUS.

Rachen mit sägeartigem Gebiss, scharfen Fangzähnen und heraus-
hängender Zunge. Die Kannibalen, welche diesen ersten Typus der
Meduse angedeutet hatten, verzierten sie mit Fellen und Rossschweifen,
um Bart und Haare nachzuahmen.

Diese Larven wurden in Todtenhöhlen niedergelegt oder an den
geheiligten Bäumen des Stammes aufgehängt. Der Schatten heftete
sich daran, verschlief dort seine Nächte, dämmerte dort lange Wochen
hindurch. Aber am Jahrestag des Todes nahm man sie zum
Erinnerungsfeste herab und hängte sie als Trophäe im Festsaale auf.
Dann begann der Schmaus; die Theilnehmer glaubten verpflichtet zu
sein zu fressen und zu schlemmen, um den Todten für sein erzwungenes
Fasten schadlos zu halten. Lange gab es da nichts als Milch und
Wasser zu trinken, aber nachdem man jene göttlichen Säfte entdeckt
hatte, die der Vernunft berauben und des gesunden Menschenverstandes
entledigen, berauschte man sich mit Entzücken. Nach beendeter Gasterei
begannen die Spiele, diese Spiele, bei denen man sich «todtlachte«
wie das Sprichwort sagt, das vielleicht in jener Zeit seinen Ursprung
hat. Man raste und erschöpfte sich in wüthenden Tänzen. Im letzten
Act langten die Wackeren nach den Schreckbildern, die ihrer Lust-
barkeit von den Wänden herab präsidiert hatten. Einer nahm die
Maske seines Vaters, einer die Larve des Grossvaters, andere stellten
Brüder und Vettern, Freunde und Genossen dar. Alle fuchtelten mit
den Waffen herum und schonten sich nicht; jeder war entschlossen,
den Manen eine Schale seines Blutes, nicht weniger, aber vielleicht
noch mehr, darzubringen.

V.

Bei den Papuas in Neuguinea wahrt man das Andenken der
Todten durch 12 bis 15 Zoll lange, »Karuar« genannte, glatte Stäbe,
die dem Vater oder Grossvater heilig sind. Was die Urgrossväter
betrifft, die zählen nicht mehr; man scheut sich nicht, die Stäbe dann
ohne Feierlichkeit wegzuwerfen.

Mitten in einem Hain, der mit Zierpflanzen geschmückt ist,
haben die Insulaner auf Neu-Irland eine Art Tempel errichtet, »Toberran«
oder das Haus des Geistes. Dort hat oder wird jeder Erwachsene des
Stammes, ob Mann oder Weib, sein Standbild aus den Steinbrüchen
des Mont Rossel gemeisselt erhalten. Die Abgeschiedenen zeigen sich
nicht kritisch in Betreff der Ähnlichkeit; aber wehe der Familie, die
das Bildnis nicht zur bestimmten Zeit besorgt, den Gebeinen nicht
eine ewige Behausung in Marmor gemeisselt gegeben hätte.

Bei den Völkern des Altai haust die Seele mindestens drei
Jahre lang in einer Puppe, die man dem Herde zunächst anbringt.
An Galatagen lässt man diese sogenannten »Schetans« Toilette machen,
man reibt ihnen nämlich das Maul mit einer Speckschwarte ein.

Bis zur spanischen Invasion verbrannten die Mayas so wie alle
Eingeborenen in Yukatan, in Nicaragua und den Nachbarländern ihre
Todten in eigenen Öfen. Jeder Todte bekam sein Standbild, das zuweilen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 776, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0776.html)