Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 773
Text
Bann des Satyrikerseins und begrenzt sein Wachsthum. Jedes Stück
Himmel, jeden Gedanken schaut er von seinem »Standpunkt des
Satyrikers« an. Die Gesellschaft besitzt ihn ganz, er ist immer
und nichts mehr als ein Satyriker. Dafür hat er im literarischen
Börsenzettel einen bestimmten Curswert.
Übrigens dürfen wir jungen Leute jetzt wieder Hoffnung auf
eine bessere, reinere und inhaltsreichere Prosa hegen. Die jungen
Schriftsteller, also jene, welche von ihrer Schreiberei leben wollen,
wenden sich dem Drama zu. Nicht vielleicht, weil ihnen das Drama
als reine Thatsachen-Dichtung zusagt (im Gegentheil, sie sind Stimmungs-
dichter), sondern weil die Bühne mehr trägt als das Mitarbeiten bei
Zeitungen und Revuen Man darf das den Autoren nicht übel
nehmen. Das deutsche Publicum verträgt im Theater immerhin noch
einige Portionen mehr Freiheit als zuhause. Was das deutsche Volk
an häuslichen Literaturgenüssen verlangt, das kann man so ziemlich
vollständig im folgenden Rathschlag lesen, den ein Berliner Manuscripten-
bureau, welches Arbeiten von verhältnismässig bedeutenden Autoren
vertreibt, seinen Mitarbeitern gibt. Es ist so ziemlich das für die Ewig-
keit geschriebene Kunstprogramm des deutschen Familiencretins:
»Wie steht’s z. B. mit Erotischem? Da die Romandichtung
überwiegend Liebesdichtung ist, so liegt bei ihr wie bei der Liebe
der Widerstreit mit der Sittlichkeit sehr nahe, umsomehr als
gerade dieser Widerstreit das Reizvollste für die meisten Schaffenden
und Geniessenden ist. Nun kann man die Liebe in zwei Arten
sondern: bei der einen überwiegt das Geistige oder Seelische, bei
der anderen das Sinnliche oder sogenannte Leidenschaftliche. Die
letztere Art bezeichnet man auch als erotische, und der erotische
Lesestoff schlechthin erscheint für den Haus- und Familienbedarf
gewöhnlich ungeeignet. Einmal deshalb, weil er sinnlich erregend
wirkt, sodann weil er durch vorerwähnten Widerstreit gegen die
sittlichen Anschauungen der Familie verstösst, gleichviel ob diese
wohlbegründet sind oder nicht. Der Dichter also, der in die Familie
will, muss genau die Artung des Familienleserkreises und besonders
die in ihm geltenden Regeln der Schalkhaftigkeit berücksichtigen.
Er darf aufregen, auch sehr stark aufregen, aber nicht erotisch;
er darf die verworfensten, nichtswürdigsten Handlungen vorführen,
aber er muss es mit sittlicher Entrüstung thun; er darf, wenn er
sehr federgewandt ist, sogar etwas »Gewagtes«, das der Unerfahren-
heit zur Warnung dienen kann, schildern, wenn man nur nicht
sagen kann, er sei lüstern, sinnlich, erotisch; er darf in summa
einen aufregenden Liebesroman bieten, aber er muss sich so aus-
nehmen, dass niemand »im Hause« auf den Gedanken kommen
kann, derartiges könnte dem Eros oder der Venus »gewidmet«
werden. Von dem, was berühmte Dichter sich demgegenüber in
»Haus und Familie« erlauben dürfen, ist hierbei nicht die Rede.
Im allgemeinen sind Erotica beim Vertrieb angewiesen auf Zeitungen
und Zeitschriften, welche die Losung »Fürs Haus und die Familie!«
nicht beachten, und diese sind nicht gerade zahlreich und zahlungs-
fähig, oder unmittelbar auf den erotischen Buchverlag.
(Siehe: Internationale Literaturberichte Nr. 17,
Organ des deutschen Schriftstellervereines.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 773, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0773.html)