Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 772
Text
im ökonomischen oder psychischen Gleichgewicht zu bleiben. Diese
Thatsache bedingt vor allem den Zwang zu schreiben. Auch dann,
wenn der Autor gar nichts zu sagen hat; denn er könnte gar zu leicht
vergessen werden, im Marktwert sinken. Auch der wohlhabende
Schriftsteller unterliegt diesem Zwang. Es kommt in unserer Zeit so
oft vor, dass ein Schriftsteller ein gutes Werk schreibt und dann
keines mehr. Vielleicht in keiner Zeit hat es sich so oft ereignet,
dass junge Männer, plötzlich, mitten in ihrer Entwicklung, einen
seelischen Knacks erleiden, der sich bei irgend einem Ereignis
manifestiert. Ich behaupte, dass mindestens drei Viertel aller Männer
der Gegenwart diese Epoche der Desillusionierung über sich selbst
erleben. Das hindert nicht, dass die Betreffenden früher, in den Zeiten
ihrer geistigen Pubertät, vielleicht eine oder die andere ganz gelungene
Arbeit zustande gebracht haben. Wieviel Literaten gehen aber mit der
Literatur ein freies, lösbares Verhältnis ein? und wie viele eine endlose,
unlösbare Ehe? Wo gibt es in Deutschland — anders vielleicht in
Russland oder Skandinavien — Schriftsteller, die es zustande brachten,
sich, auch nach einem Erfolg, von der Literatur wieder loszusagen? Obzwar
vielleicht gerade diese Abstinenz ein Heilmittel sein könnte! In Wirk-
lichkeit verhält es sich so: je impotenter ein Schriftsteller
wird, desto productiver wird er. Auf dem Umwege seiner Werke
will er sich seine eigene innere Lebendigkeit und Existenz erweisen.
Die Literatur als Lebenslüge der innerlich Todten.
Für den unbemittelten Schriftsteller ist der Zwang ein gröberer.
Er muss schreiben, um davon zu leben. Wie mancher dieser Schrift-
steller hätte nach dem ersten Werk die Feder niederlegen wollen
und hat weiterschreiben müssen! Die meisten haben ihr eigenes Werk
copiert, einige äusserliche Veränderungen daran gemacht und es als
Neuigkeit wieder in die Welt gesetzt. Es gibt Autoren, welche nur ein
Werk dichteten und dieses eine Werk in hundert Vermummungen jedes
Jahr frisch auf den Markt warfen. Das ist dann eine »ausgesprochene
Eigenart«. Dieses Bestreben wird unterstützt durch die retardierenden,
conservativen Absichten der Gesellschaft. »Du hast einmal hübsche
Gedichte zustande gebracht. Will ich wieder Lyrisches, so komm ich
wieder zu Dir.« Ich bin aber morgen satirisch gestimmt. Was thut’s?
Die Gesellschaft hat die Tendenz, Dich in Deinen Zuständen
zu incarnieren! Dichter ist einer, der fortwährend über sich selbst
hinauswächst und davon Kunde gibt, Schriftsteller — einer, der sich
selbst ewig wiederholt. Wäre Max Halbe kein Dichter, sondern ein
Schriftsteller, so hätte er nach der »Jugend« noch zehn andere Jugend-
dramen, und nicht die Dramen seiner werdenden Männlichkeit ge-
schrieben. Er wäre dann als Specialist für Jugendtragödien in die
Lexika gekommen und hätte seine Tantiemen sicher in den Taschen
gehabt Die Gesellschaft hat eben die Neigung, jede einmal ge-
offenbarte Tendenz in einer Function zu organisieren. Jemand
schreibt irgendwo einen satyrischen Artikel. Sofort wird er als
Satyriker erkannt. Auf seiner ganzen Existenz ruht nunmehr der
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 20, S. 772, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-20_n0772.html)