Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 920

Nationales Königthum (Ibsen, Dr. Sigurd)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 920

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920 IBSEN.

Die Fürsten, die früher nahezu als natürliche Feinde der Nationen
dastanden, wurden von nun an als vornehmste Träger der Nationalitäts-
idee betrachtet. Wenn die Völker heutzutage einwilligen, die Lasten
des Militarismus zu tragen und ungeheuere Opfer an Geld und Arbeits-
kraft bringen, wenn die Parlamente willig unverantwortlichen Herrschern
es überlassen, über das Schicksal der Staaten zu gebieten, da geschieht
es in der bestimmten Zuversicht, dass in allem, wo es äussere Unab-
hängigkeit und die Ehre gilt, der Monarch und die Nation solidarisch
sind. Die grossen Länder sehen in ihrem Fürsten eine Verkörperung
ihrer eigenen Macht und Herrlichkeit, die kleineren Länder sehen in
ihrem Fürsten den selbstverständlichen Fürsprecher ihres Rechtes und
ihrer Interessen. Aus diesem Glauben an den nationalen Charakter der
Monarchie und nicht aus der Formel »von Gottes Gnaden« entnimmt
das moderne Königthum seine beste Kraft. Wie nach der Sage der
Riese Antäus neue Kräfte gewann, so oft er die Mutter Erde berührte,
so muss auch die Monarchie, wenn sie dauernden Bestand haben will,
ihre Wurzel im Selbstbewusstsein der Völker haben.

Neben der Majestät der Könige ist in unsern Tagen eine Majestät
der Nationen herangewachsen, und diese letztere fordert, dass sie
gerade so respectiert wird wie die erstere. Die Völker sind sonst
unendlich genügsam und geduldig, und die europäischen Fürsten dürfen
sich mancherlei erlauben; aber in einem Punkt wissen sie, dass mit den
Völkern nicht zu scherzen ist, und das ist, wenn die nationale Empfind-
lichkeit in Betracht kommt. Der Monarch kann ruhig über jeden ein-
zelnen seiner Unterthanen hinwegsehen, aber über die Nation als solche,
über die Nation als Ganzes darf er nicht hinwegsehen: dergleichen
wird nicht gestattet und würde nicht vergeben werden. Friedrich
der Grosse konnte seinerzeit ungestraft seine Geringachtung des Volkes,
das er beherrschte, zu erkennen geben, aber wenn Wilhelm II. sich
ähnlich verhalten wollte, würde er bald erfahren, dass die Unter-
gebenheit da ihre Grenze hat, wo sie mit den nationalen Instincten
in Conflict geräth. Wie sensibel diese geworden sind, zeigte sich
gerade in Deutschland vor zehn Jahren, damals, als man Kaiser
Friedrich im Verdacht hatte, sich von englischen Einflüssen leiten zu
lassen, und selbst Regierungsorgane scheuten sich nicht, den tod-
kranken Mann und seine Gemahlin auf das heftigste anzugreifen. Das
Nationalgefühl ist noch immer der mächtigste Factor im Leben der
Staaten: in ihm treffen sich die Privilegierten und Namenlosen, Classen
und Massen, und kein König darf das vergessen, ohne dass es sich
rächt, denn weder ist der Monarchismus der Classen, noch der Socia-
tismus der Massen irgendwo stark und überwiegend genug, dass der
eine oder der andere die Stimme der Vaterlandsliebe übertäuben
konnte. Die Menschenrechte kann man niedertreten, wie im russischen
Reich, das geht durch, weil der Czar im Bewusstsein des Volkes
doch immer der grosse Repräsentant des »heiligen Russland« ist.
Eine unliberale Monarchie kann sich unter Umständen halten, aber
eine unnationale würde sich bald als Unmöglichkeit herausstellen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 24, S. 920, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-24_n0920.html)