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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 4

Text

STRINDBERG: DIE SCHLÜSSEL DES HIMMELREICHS.

Ich hab’ mir auch erzählen lassen,
Von Deinem Wissensdrang und Weisheits-
durst,
Und dass Du mehr von Deinem Fach
verstehst als andre.

Der Schmied.

Man sagt’s. Und wahr ist’s ohne Prahlerei,
Wenn in den Krug die andern giengen,
Sass bei den Kindern ich und lernte lesen.
Und als ich’s selbst verstand, da lehrt’
ich es die Grossen.
Mein Käthchen

Der Arzt.

Was aber lasest Du am liebsten?

Der Schmied.

Von Höfen, Fürsten, Schloss und Burgen,
Der Grossen Streit, von Heer und Feld-
schlacht,
Von alten Zeiten, längst entschwund’nen
Tagen;
Kabalen, Diplomaten, Glaubensstiftern,
Von fremden Ländern, Türken, Persern,
Kreuzfahrern und den Saracenen
Und seltsam war’s: Je mehr ich las,
Je mehr wuchs mein Verlangen nach
dem Wissen.

Der Arzt.

Du sehntest nie Dich fortzukommen, nie
zu reisen?

Der Schmied.

O, reisen! Ja! Die grosse, weite Welt zu
sehen,
Nicht nach dem Hörensagen bloss von ihr
zu reden!
Wer träumt ihn nicht, den Jugendtraum,
Wer hegte nicht die Jugendhoffnung?

(Während der vorhergehenden und nächst-
folgenden Scene verschwinden zuerst die Kinder-
schuhe, dann die Spielsachen, hierauf die
Kleider. All dies aber nach und nach.)

Der Arzt.

So sollst Du reisen!

Der Schmied.

Was sagst Du? —
Mit wem? Wieso?

Der Arzt.

Mit mir!

Der Schmied.

Wohl hörte ich, dass einst in früher Zeit
Der Herr auf Erden sei umhergewandert,
Die Menschenkinder zu beglücken!
Doch dass in unsern Tagen

Der Volksaufklärung und des Ketzer-
glaubens
Noch solch ein Wunderwerk geschehen
könnt’,
Das hätt’ ich, Doctor, nimmermehr
geglaubt!

Der Arzt.

Ja, Wunder kannst Du alle Tage schauen,
Bis an der Welten Ende!
Wenn Du das Meer siehst an die Wolken
steigen,
Und Wolken sich zur Erde senken, —
Und wenn dem Samen in der Erd’ ent-
sprosst die Pflanze,
Der Blitz den Baum zerschellt, das Eis
die Sonne schmilzt,
Wenn Worte spricht der Mund, das Hirn
Gedanken denkt,
Geschehen Wunderwerke noch und alle
Tage.

Der Schmied.

Sag’, kannst Du zaubern, Doctor?

Der Arzt.

Ja, ich so gut wie Du!
Siehst Du ein Weib, so hässlich wie die
Sünde,
So faul wie Jauche, scharf wie Gift,
Und Du erschaust in ihr die schöne,
Die gute, engelsgleiche, reine,
So zauberst Du!
Als eben jetzt aus der Erinn’rung Tiefen
Du auferweckt die todten Kleinen
Und Du sie deutlich schiedest auseinander,
Dass meinem Auge leibhaft sie erschienen,
Dass ich sie sah und ihre Stimmen hörte,
Da wecktest Du die Todten auf,
Da konntest Du auch zaubern!

(Er zieht einen Todtenschädel aus der Tasche.)

Sieh hier die Zauberbüchse, die Natur
uns gab,
In dieser Kapsel lag vor kurzem noch,
Grauweisslich eine Masse, phosphorhalt’gen
Fetts!
Durch diese runden Höhlen drangen
Hinein des Lichtes Wellen,
Durch diese die des Lautes,
Da des Geruchs und des Geschmacks.
Und wenn sie sich im Innern trafen,
Zurück liess jede ihren Abdruck,
Bei manchem stärker und bei andern
schwächer,
Gesammelt so, vereint, geschieden,
Befruchtend wirken sie und zeugend.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 4, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-01_n0004.html)