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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 9

Text

FRIEDRICH NIETZSCHE ÜBER RICHARD WAGNER.

vor Luther beugte, um Einfluss zu be-
kommen.

Das falsche Germanenthum bei
Richard Wagner
. Diese höchst »mo-
derne« Mischung von Brutalität und Ver-
zärtelung der Sinne und die gründlichste
psychologische Falschheit ist mir ebenso
zuwider, wie das falsche Römerthum bei
David; ebenso wie Walter Scott (oder
vielmehr das falsche, englische Mittelalter
Walter Scotts, das unserem verschärften
Sinne jetzt nicht mehr möglich zu er-
tragen).

Wo, in pöbelhafter Art, eine Begierde
die Oberherrschaft führt (oder überhaupt
die Begierden), da gibt es keinen höheren
Menschen. Es versteht sich, dass ein
solcher (wie z. B. Augustin oder Luther)
auch gar nicht die höheren Probleme
kennt, da alle eine viel kühlere Höhe
voraussetzen. Das ist alles rein persönliche
Noth bei Augustin und Luther. Es ist die
Frage eines Kranken nach einer Cur. Die
Religionen mögen wesentlich solche Thier-
bändigungsanstalten oder Irrenanstalten für
solche sein, die sich nicht selber beherrschen
können. Es ist komisch, diese Noth um
den Geschlechtstrieb, z. B. auch in Wagners
»Parcival« (Sic! d. H.) und »Tannhäuser«.
Wagner — Apostel der unbedingten
Keuschheit!

Ich stelle das Problem von der Rang-
ordnung des Künstlers neu; zugleich bilde
ich den Künstler, so hoch ich kann. That-
sächlich finden wir alle Künstler unter-
worfen
unter grosse geistige Bewegungen,
nicht als deren Leiter, oft Vollender;
z. B. Dante für die katholische Kirche,
Richard Wagner für die romantische Be-
wegung, Shakespeare für die Freigeisterei
Montaignes. Die höheren Formen, wo der
Künstler nur ein Theil des Menschen ist
— z. B. Plato, G. Bruno, Goethe —
diese Formen gerathen selten.

Das Leben ist höchst räthselhaft; bisher
glaubten alle grossen Philosophen durch
eine entschlossene Umkehrung des Blickes
und der Wertschätzungen eine Lösung zu

erzielen. — Die Hauptsache ist, dass eine
solche Umkehr nicht nur eine Denk-
weise
, sondern eine Gesinnungsweise
ist: für Menschen, die einer umwälzenden
Gesammt-Wertschätzung nicht fähig sind
— höchster Grad der Selbstbestimmung
— ist alles gelehrte Wissen um solche
Systeme fruchtlos. Diese Frucht-
losigkeit
der philosophischen Denkweise
z. B. bei Kant, Schopenhauer, Richard
Wagner u. s. w.

Welches schlimme Schicksal hat
Schopenhauer gehabt! Seine Ungerechtig-
keiten fanden Übertreiber (Dühring und
Richard Wagner), seine Grundansicht vom
Pessimismus einen Berliner Verkleinerer
(E. von Hartmann). — Der arme
Schopenhauer! E. von Hartmann hat ihm
die Beine, auf denen er einhergieng, und
Richard Wagner gar noch den Kopf ab-
geschnitten!

»Liegt etwa die Begreiflichkeit der
Dinge darin, dass man von seinem Ver-
stand grundsätzlich nur einen mittel-
mässigen Gebrauch macht?« — Dieses
Wort Fr. Alb. Lange’s gegen die
Bayreuther.

(Aus einem Briefe). Wissen Sie, was
ein Sumpf ist? — Der Zufall erlaubte es
mir, einmal alles das bei einander zu
sehen, was Richard Wagner und seine
Leute zusammen in Worten gesündigt haben:
in den übel berufenen »Bayreuther Blättern«.
Sehen Sie, das ist ein Sumpf: Anmassung,
Unklarheit, Unwissenheit und – Geschmack-
losigkeit durcheinander. Wie der Alte singt,
so zwitschern die Jungen; darüber wird
sich niemand wundern. Und wäre es nur
ein Gesang! Aber es ist nur ein Gewinsel,
die Wichtigthuerei eines alten Oberpriesters,
der sich vor nichts mehr fürchtet als vor
hellen, deutlichen Begriffen. Und das will
in Dingen der Philosophie und Historie
mitreden! — »Il faut être sec«, sagte —
mir nach dem Herzen — mein Freund
Stendhal. Man soll den Morast nicht auf-
rühren. Man soll auf Bergen wohnen:
also sprach mein Sohn Zarathustra.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 9, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-01_n0009.html)