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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 8

Text

FRIEDRICH NIETZSCHE ÜBER RICHARD WAGNER.

Mensch in Deutschland, der diese zwei, der
zugleich Richard Wagner und Schopen-
hauer mit einer Begeisterung liebte.

Einige meiner Freunde wurden angesteckt.
Es ist sehr gleichgiltig, ob mein
damaliges Bild des Künstlers oder des
Philosophen, in Hinsicht auf das vielleicht
zufällig mir dargebotene Subject (Richard
Wagner oder Schopenhauer) falsch ist;
vielleicht, dass der Irrthum sogar ins Un-
geheuerliche geht — was liegt daran!

Nach langen Jahren, welche aber nichts
weniger waren als lange Unterbrechungen,
fahre ich fort, auch öffentlich das wieder
zu thun, was ich für mich immer thue
und immer gethan habe: nämlich Bilder
neuer Ideale an die Wand zu malen.

Ich habe mich in eine gute helle Höhe
gehoben: und mancher, der mir, als ich
jung war, wie ein Stern über mir leuchtete,
ist mir nun fern — aber unter mir;
z. B. Sch(openhauer), W(agner).

Eine gute Anzahl höherer und besser
ausgestatteter Menschen wird, wie ich
hoffe, endlich so viel Selbstüberwindung
haben, um den schlechten Geschmack für
Attitüde und die sentimentale Dunkelheit
von sich abzuthun und gegen Richard
Wagner ebenso sehr als gegen Schopen-
hauer sich zu wenden. Diese Deutschen
verderben uns, sie schmeicheln unseren
gefährlichsten Eigenschaften

Alles, was ich über R(ichard) W(agner)
gesagt habe, ist falsch. Ich empfand es
1876, »es ist an ihm alles unecht«; was
echt ist, wird versteckt oder decoriert.
Er ist ein Schauspieler in jedem schlimmen
und guten Sinne des Wortes.

R. Wagner zu beschreiben — Ver-
such einer Dictatur. Aber zuletzt strich
er sich selber durch
, unfähig zu einer
eigenen Gesammtconception. Die Ent-
zückungen des protestantischen Abend-
mahles verführten ihn! So gestand er mit

dem Schlusse seines Lebens unfreiwillig
ein, dass er verzweifelte und sich vor dem
Christenthum niederwarf.

Die intellectuelle Charakter-
losigkeit
. Als Richard Wagner mir gar
von dem Genusse zu sprechen begann,
den er dem christlichen Abendmahle (dem
protestantischen) abzugewinnen wisse, da
war es aus mit meiner Geduld. Er war
ein grosser Schauspieler, aber ohne Halt,
und inwendig die Beute von allen Sachen,
welche stark berauschen. Er hat alle
Wandlungen durchgemacht, welche die
guten Deutschen seit den Tagen der
Romantik durchgemacht haben: Wolfs-
schlucht und Euryanthe, Schauer-Hoffmann,
dann »Emancipation des Fleisches« und
Durst nach Paris, dann der Geschmack
für grosse Oper, für Meyerbeer’sche und
Bellini’sche Musik; Volkstribun, später
Feuerbach und Hegel — die Musik sollte
aus der Unbewusstheit heraus; dann die
Revolution, dann die Enttäuschung und
Schopenhauer und neue Annäherung an
deutsche Fürsten, dann Huldigungen vor
Kaiser und Reich, dann auch vor dem
Christenthum, mit Verwünschungen gegen
die »Wissenschaft«.

Wagner hat vollkommen Recht, wenn
er sich vor jedem tiefen Christen in den
Staub wirft; aber er steht wirklich viel
tiefer als solche Naturen! Nur soll er sich
nicht beikommen lassen, die ihm über-
legenen höheren Naturen zu seiner
Attitüde herabzuziehen!

Wie Winckelmann am Laokoon, gleich-
sam am Ende des Alterthums, den Sinn
für dasselbe sich erwarb, so Richard
Wagner an der Oper, der schlechtesten
aller Kunstgattungen, den Sinn für Stil,
d. h. Einsicht, dass es nicht möglich ist,
Künste zu isolieren.

Der demagogische Charakter der
Kunst Wagners
(wie bei Victor Hugo):
zuletzt mit der Consequenz, dass er sich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 8, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-01_n0008.html)