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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 7

Text

FRIEDRICH NIETZSCHE ÜBER RICHARD WAGNER.

Thersites (auf der Bootkante).

Seh ich den Himmel dort sich unten
spiegeln!

Die Oreade.

Ja, auf der Oberfläche, tiefer blick’, Thersites.

Thersites.
(Das Boot schlägt um und er versinkt.)

Zu Hilf! Ich sink’! Kein Boden unter mir!

Die Oreade.

Das war zu tief für Dich!
Die Wellen schlagen über Dir zusammen.

Die Nymphen.

Gnothi Seauton!
Das da heisst: Erkenne Dich selbst!

(Thersites sinkt in die Tiefe. Die Frösche hüpfen
ihm nach hinein. Die Nymphen kehren in das
Dickicht, Narcissus zieht sich in die Höhlung
des Baumes zurück. Der See bedeckt sich mit
einer Grasmatte und St. Peter, der, ohne auf
die sich abspielende Scene zu achten, während
der ganzen Zeit erfolglos mit Angeln beschäftigt
gewesen, wird schliesslich gewahr, dass etwas
Ungewöhnliches vorgehe.)

Der Arzt.

Nun Schmied, was dünkt Dich von dem
Abenteuer?

Der Schmied.

Gewiss, recht nett und auch sehr
instructiv —
Etwas zu tief wohl auch für mich —
Philosophie ist just nicht meine Stärke.

Der Arzt.

Nein, nein, das geb’ ich zu! denn Leben
erst

Und seh’n und hören, dann summieren,
Den Abzug machen, Wurzel, Mittel suchen,
So spinnt sich ja der Hergang ab.
Nicht eher lernst Du Dich erkennen,
Als bis im kleinen Finger Du das Leben
hast,
Also zurück zu Fuss auf neuen Wegen.
Wie steht’s mit unserm Freund, Apostel?
Sind seine Rappen schon bereit?

St. Peter
(der die Angelruthe auf die Wiese ausgeworfen).

Ich glaube, meiner Seel’, der See ist all!

Der Arzt.

Du fischest auf dem Trock’nen, alter
Fischer,
Komm mit und fische Menschen, Petrus.

St. Peter.

Das Wort hab’ ich einmal gehört
Vor vielen, vielen Jahren schon — — —
Wie doch das Alter mein Gedächtnis
trübt!
Doch sehe ich wie durch ein Gewölk
’nen Mann so licht, so mild,
Mit Malen an der Brust, den Händen —
In Büchern las er niemals, sondern
wanderte
In Waldeseinsamkeit und auch auf Bergen,
In Dörfern, Städten Da, nun reisst
der Faden ab —
Doch immerhin; — komm’, lass uns
Menschen fischen, Doctor!

(Er wirft die Angelruthe weg; sie gehen.)

(Fortsetzung folgt.)


FRIEDRICH NIETZSCHE ÜBER RICHARD WAGNER.*

In meiner Jugend, wo ich vielerlei war,
z. B. auch Maler, habe ich einmal ein Bild
von Richard Wagner gemalt, unter dem
Titel: »Richard Wagner in Bayreuth«.
Einige Jahre später sagte ich mir: »Teufel,
es ist gar nicht ähnlich!« Noch ein paar
Jahre später antwortete ich: »Umso besser,
umso besser!« In gewissen Jahren des
Lebens hat man ein Recht, Dinge und
Menschen falsch zu sehen — Vergrösserungs-

gläser, welche die Hoffnung uns gibt. Als
Knabe liebte ich Händel und Beethoven;
aber »Tristan und Isolde« kam, als ich
13 Jahre alt war, hinzu als eine mir ver-
ständliche Welt, während ich damals den
»Tannhäuser« und »Lohengrin« als »unter-
halb meines Geschmackes« empfand:
Knaben sind in Sachen des Geschmackes
ganz unverschämt stolz. Als ich 21 Jahre
alt war, war ich vielleicht der einzige

* Anmerkung der Redaction. Wir freuen uns, hier den Freunden des grossen Denkers
einige noch ungedruckte Aphorismen bieten zu können, wenn auch dieselben bereits den Schatten
der Verdunklung dieses strahlenden Geistes deutlich merken lassen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 1, S. 7, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-01_n0007.html)