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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 30

Text

GEORGE: GEDICHTE. STEFAN GEORGE.* (EIN TAG AUS DEM »ALGABAL«.)

Gegen osten ragt der bau
Wo dem grossen Zeus zu fröhnen
Toller wunder fremde schau
Und die würde sich versöhnen.

Tänzer öffnen das geleit
In verführenden gewändern
Knaben die ein opfer feit
In den sonnenschlaffen ländern,
Macht aus öl- und palmenlaub
Vor des priesters fuss ein kissen,
Streuet sand und silberstaub
Tote liljen und narzissen!

An der schwelle haltet rast
Wo das heilge bild entschleiert
Nur sich gibt dem einen gast
Der es oft und innig feiert,
Nur sein mund gebete lallt,
Auch kein bruder sei zugegen:
Spricht des gottes zwiegestalt
Seinen immer gleichen segen.

Junge stimmen · ferner hall.
Narden die verflüchtet irren
Durch der rauche strengen quall
Zu dem kuss der süssen mirren.

(AUS DEN TRAURIGEN TÄNZEN DES »JAHRES DER SEELE«.)

Drei weisen kennt vom dorf der blöde knabe
Die wenn er kommt sich ständig wiederholen:
Die eine wie der väter hauch vom grabe
Die eh sie starben sich dem herrn befohlen.

Die andre hat die tugendhafte weihe
Als ob sie Schwestern die beim spinnrad sassen
Und mägde sängen die in langer reihe
Vor Zeiten zogen auf den abendstrassen.

Die dritte droht — Versündigung und rache —
Mit altem dolch in himmel-blauer scheide,
Mit mancher sippe angestammten leide,
Mit bösen Sternen über manchem dache.

* Aus den bei Georg Bondi in Berlin erscheinenden gesammelten Dichtungen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 30, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0030.html)