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R.
Es ist längst nicht mehr üblich,
Gedenktage zu feiern; man überlässt das
den allzu Überflüssigen, den Literatur-
historikern. Nur uns in Österreich, die
wir keine Gegenwart und eine un-
gewisse Zukunft haben, mag es reizen,
der Vergangenheit nach zu sinnen. Und
den Vergangenheitsfesten, die jüngst
in unseren Gassen gefeiert wurden,
liegt mehr zugrunde, als sich die 4000
Decorierten träumen lassen mögen
Fünfzig Jahre sind verflossen, seit-
dem Wien in europäischen Fragen zum
erstenmale mitgeredet hat. Es ist nicht
nothwendig zu untersuchen, welche
Ideen es waren, die damals die Gehirne
in Wien erregten, welche Emotionen sich
in Kraft und Bewegung umsetzten: die
alten Schlagworte, die den grossen
Taumel zeugten, lassen uns heute sehr
gleichgiltig und diese Legionäre wussten
es vielleicht selbst nicht genau, für
welche »Freiheit« sie auf den alten
Wällen ihr Blut vergossen. Aber die
Thatsache der plötzlichen Verbindung
zwischen der Entwicklungslinie Europas
und dieser abseits stehenden Stadt ist
es, die überraschend wirkt. Der Geist
verrichtete sein altes Wunder: er schlug
an den Felsen, da sprang der Quell
empor — diesem gering geachteten
Volk entwuchsen Helden. Fragt nicht,
sprach Zarathustra, ob jemand um
Nüsse oder um Königreiche gespielt
hat; ob ehrlich gespielt ward oder
falsch, danach gehe die Frage. Es ist
nicht unbedingt nothwendig, dass man
für richtige Ansichten gekreuzigt
wird. Das Kreuz und die Nägel sind
die Hauptsache.
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Wie der leitende Gedanke äusser-
lich mächtig wird, Sitten und Gesetze
macht und dabei innerlich abstirbt, gibt
im wesentlichen dem Bild des folgenden
Halbjahrhunderts die Färbung. Wie eine
ursprünglich befreiende Kraft allmählich
immer zur Unterdrückung führen muss,
hat sich vielleicht selten so deutlich
gezeigt. Es ist lächerlich und wider-
wärtig zu beobachten, wie dieselben
Lügen, die vielleicht einmal Wahrheiten
waren, von einer innerlich todten Ge-
neration der andern überliefert werden:
sie »merken gar nicht, wie todt sie
sind und dass sie verloren die Köpfe.«
Durch seine Presse übte dieser todte
Gedanke in Wien eine wahre Schreckens-
herrschaft aus; man müsste Bücher
schreiben, wollte man alle Sünden
dieser Presse nach Gebür würdigen.
Jede Regung neuen und selbständigen
Geisteslebens wurde unterdrückt, alle
Entwicklungsmöglichkeiten zerstampft.
Das war die Zeit, in der der berühmte
Hyrtl Wien verlassen musste, weil er
die Unhaltbarkeit des Materialismus
wissenschaftlich nachgewiesen hatte;
damals verlebte Richard Wagner in
Wien Jahre, welche er selbst als »die
schrecklichsten seines Lebens« bezeich-
nete; was »innere Frivolität sei, habe
er erst in Wien erfahren«. Die Religion,
deren geistige und culturelle Bedeutung
nicht im entferntesten begriffen wurde,
hatte man dem Publicum glücklich
geraubt, ohne ihm einen andern Ersatz
bieten zu können als das Misstrauen
und die Gehässigkeit allen geistigen
Dingen gegenüber. Diese Leute haben
jene aus der Ignoranz entspringende
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