Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 52

»Fuhrmann Henschel« Burgtheater: Gastspiel Kainz (Heimann, MoritzSchik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 52

Text

THEATER.

das, die die Menschen so liebend versteht,
dass sie alle ihre Regungen in sich ver-
spüren kann, und die ihnen doch so fern
ist, dass sie ihnen allen ihren Willen, alle
ihre Grenzen lässt! Es ist eine Klarheit,

die allem Dumpfen und Dunstigen zur
Scham wird, und eine Vollkommenheit,
die den Verstehenden erschreckt und an
der als einer Hybris sich nicht zu rächen
eine läuternde Überwindung ist.


THEATER.

Burgtheater. Fünf Abende hin-
durch waren wieder einmal seit geraumer
Zeit sämmtliche Sitze im Burgtheater nieder-
geklappt. Das Erscheinen Kainz’ wirkte
wie ein Blitzstrahl, der den Verfall dieser
Bühne grell beleuchtete. Man sah diesen
Mann: eine »feurige Lohe« auf einem
verglimmenden Schutthaufen. Am ersten
Abend als Mortimer war er noch er. Je
weiter aber sein Gastspiel fortschritt, desto
mehr lagen ihm die Schrecken, die er
vormittags bei den Proben auszustehen
hatte, in den Gliedern. Es ist zu viel ver-
langt, dass ein Schauspieler nicht nur seine
Rolle spielen, sondern auch noch seine
Phantasie ununterbrochen anstrengen soll,
sich seine Partner zugleich modernisiert
vorzustellen. So kam es, dass Kainz am
besten in den Monologen und längeren
Dialogreden war, wo er von keinem Mit-
spieler gestört wurde, dagegen versagen
musste, wenn ein näherer Gesprächsver-
kehr eintrat. Das Burgtheater ist auf das
Stichwortspiel gesunken. Auf den Sinn einer
Gegenrede im Dialog kann niemand mehr
lauschen, weil dieser weder dem Mitspieler
noch dem Publicum deutlich wird. Des-
halb vermochte hier auch Kainz einen
vollen künstlerischen Genuss nicht zu
bieten. Ein Stimmungsschauspieler wie er
bedarf den Abend hindurch lebendiger
Anregung. Auch ein Kainz ist den An-
strengungen nicht gewachsen, bei jedem
Auftritt das Publicum aus der Schläfrigkeit
zu reissen, in die, während er hinter der
Scene zu sein hat, seine Partner es versetzen.

Er selbst hat gewiss wenig Lust, eine solche
Herkulesarbeit fort und fort zu versuchen.
Zudem mangeln bei dem ungesunden Wiener
Kunstklima die nöthigen Elemente zur Re-
generierung verbrauchter Kräfte. Es musste
bei Kainz über kurz ein Entwicklungsstill-
stand, sogar ein Rückschritt eintreten. Wien
würde ihn verlieren, indem es ihn gewänne,
umso gewisser, wenn eine verständnislose
Direction, wie schon diesmal, ihn zur Über-
nahme von Rollen verleitet, die, wie Leon
in »Weh’ dem der lügt« und Franz Moor,
mit Kainz’schen Mitteln nicht im Geiste
der Dichtung zu halten sind. Wir haben
schon beim vorherigen Erscheinen Kainz’
in Wien sein Wesen* und die unerlässlichen
Vorbereitungen, die für sein ständiges
Wirken im Burgtheater zu treffen sind**,
eingehender Besprechung unterzogen und
kommen jetzt zu dem Schlusse, dass die
Gastspiele Kainz’ eine erwünschte zer-
setzende Wirkung auf die veraltete Spiel-
weise in unseren Theatern ausüben werden,
dass aber dermalen für ein dauerndes En-
gagement Kainz’ in unserer Stadt alle
Vorbedingungen mangeln. Ähnlich jener
Mutter im salomonischen Urtheil wollen
wir lieber den ganzen Kainz in Berlin
wissen als den halben in Wien. Kainz
hätte vor Jahren zu uns kommen müssen,
jetzt ist es wieder zu früh dazu. Der
letzte Act des Verfalles des Burg-
theaters hat mit Schlenther begonnen
— und ein Fortinbras erscheint im
Stücke erst am Schlusse, nachdem alles
vorüber —i— .

* »Wiener Rundschau« vom 15. October 1897: »Josef Kainz im Burgtheater«.

** »Wiener Rundschau« vom 1. November 1897: »Ein Kainz-Ensemble«.


Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Constantin Christomanos.
K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 52, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0052.html)