Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 46

Über das Interessante im Bösen Die heilige Gudula (Rubinstein, Dr. SusannaLevetzow, Freiherr Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 46

Text

LEVETZOW: DIE HEILIGE GUDULA.

sträubenden Abscheu ein, wenn es gleich
von vornherein zwecklos ist; es zeigt sich
als teuflischer Wahnsinn, wenn es blind
zuschlägt, und zeigt entweder von blöder
Urnatur oder von Degenerationsstupidität,
entweder von empfindungsloser Rohheit
oder von seniler Ausgelebtheit, wenn es
als plaisirlicher Choc angesehen wird. Der
Zulauf der Massen zu Executionen ist ein
Beleg für den ersten Fall, für die Organi-
sation mit Nerven wie Schiffstaue. Und
in den oberen Schichten kommt die diabo-
lische Lust an prunkvollen Veranstaltungen
von Marterscenen im Decadenzstadium
solcher Völker vor, die aus der politischen
Machtfülle und dem Uebermasse raffinierter
Schwelgereien bereits in den Fäulnisprocess
übergehen, und ihre erschlafften Nerven und

ihre öden illusionslosen Geister durch be-
sondere Mittel aufrütteln wollen. Eine solche
Zeit war die römische Kaiserzeit oder die
Zeit des Cäsarenwahnsinns, wo man, nach-
dem auch den masslosen Schlemmereien
stumpfsinnige Leere gefolgt war, durch
die nicht zu fassenden Scenen der in der
Arena den ausgehungerten Thieren vor-
geworfenen Sclaven und Gefangenen sich
zu beleben suchte. Selbst Constantin d. Gr.
bestimmte die besiegten Brukterer zu
diesem grauenhaften Zweck. Und wie
ein Zeitgenosse berichtet, ward der
Kaiser von seinen Lobrednern dafür ge-
priesen, dass er die massenhafte Ver-
nichtung der Feinde zur Ergötzung des
Volkes benützte; »welcher Triumph hätte
schöner sein können!« *

(Fortsetzung folgt.)

* Allerdings brachte der jetzige spanisch-amerikanische Krieg nicht minder schmach-
voll wilde Vorgänge. So sollen die Senoras in elegantem Prunk und mit jubelndem Hände-
klatschen dem Niedermetzeln von gefangenen Cubanern in den Antillen beigewohnt haben. Doch
scheint ja auch das spanische Volk dem Untergang entgegen zu reifen.


DIE HEILIGE GUDULA.
Von Freiherr KARL von LEVETZOW (Wien).

In der Secession haben wir jetzt ein
merkwürdiges Bild. Eines jener Bilder, die
man oft gar nicht sieht, die wie einen
ungemalten Schleier über sich tragen.
Diese seltsame, seltene Künstlerkeuschheit,
die ihre Seele vielleicht nur solchen zeigt,
die ähnliche Dämmerungen kennen, ähn-
liche Sonnenaufgänge und Himmelsklar-
heiten.

An solchen Kunstwerken geht die
Menge vorbei und sieht sie nicht; und
es ist gut, dass sie nicht bemerkt werden;
denn sie sind nicht für klebrige, patsch-
freudige, schweissfeuchte Hände. Die
Leute gehen daran vorbei — und
schütteln den Kopf. — Ein einfaches
Mädchen in geblümter Kattunjacke, in
schlichtem Rock, sitzt auf einer groben,
steifen Gartenbank, die Hände lässig in
den Schoss gelegt, das Auge starr, fast
ausdruckslos; man möchte sagen, ein ein-
faches, banales Kindermädchen. Und um

diesen einfältigen Kopf ein Heiligenschein!
— Was ist das?! Katalog Nr. 109:
Melchers »Die heilige Gudula«. — Hm!
— Man stösst das beliebte Vernichtungs-
urtheil »secessionistisch« aus oder versteigt
sich zu einem überzeugten »trivial« —
die grosse Schönheit wird nicht gesehen.
»Das soll eine Heilige sein?« »Wo ist
denn da die Vergeistigung, die Idealisierung,
das Überirdische?« »Ist das Gedanken-
armuth, Gemüthsarmuth, Gemüthsroheit
oder — Blasphemie?« Und weil man sich
nicht auskennt — geht man weiter.
»Heilige seh’n doch anders aus.« »Der
Heiligenschein macht es noch nicht.« —
So bleibt der Schleier über dem Bilde
und keiner hebt ihn. Wohl einer keuschen
Künstlerseele!

Ich konnte mich kaum trennen von
diesem bescheidenen, ruhigen, selbstgenüg-
samen Kunstwerk, weil ich so viel von
unserer Selbsterkenntnis darin fand und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 46, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0046.html)