Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 41

Die neue freie Sandrock »Die heilige Elisabeth« (Ludassy, J. v.Graf, Dr. Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 41

Text

GRAF: »DIE HEILIGE ELISABETH.«

Tasche versenkt und aus ihr eine gar
herzige Dose hervorgeholt. Da befanden
sich Bonbons. Eines wurde zierlich heraus-
gefingert, in das Mündchen gesteckt und
— Andromache lutschte mit deutlichem
Behagen. Mittlerweile näherte sich das
Stichwort. Da wurde die gute Andromache
plötzlich bewegt. Und als es endlich ge-
fallen war, da brach die Lava der Leiden-
schaft vollends hervor. Die »goldene«
Stimme der Künstlerin klang. Denn das
Bonbon hatte seine Schuldigkeit gethan.
Wie anders die Gina der Sandrock. Sie
hat sich längere Zeit stumm auf der
Bühne zu beschäftigen. Sie strickt mit
hausmütterlicher Miene an einem Strumpfe.
Und langsam, mit holländischem Phlegma,
zieht sie eine Stricknadel aus dem Haar-
wulste. Sie lüftet den Saum ihres Gewandes.
Ihr Fuss, der in Filzpantoffeln steckt, wird
sichtbar. Und sie kratzt sich gemächlich
mit der Nadelspitze am Knöchel und in
den Zügen himmlische Einfalt und tiefste
Seelenruhe, im Auge die vollendetste
Gedankenlosigkeit. Sicher, das Bonbon
der Sarah war vom Dichter nicht vor-
geschrieben gewesen, ebensowenig mochte
Ibsen daran gedacht haben, dass Gina
noch anderes jucken könne als das Ge-
wissen. Ich will auch nicht behaupten,
dass der von der Sandrock in die »Wild-
ente« hineingeheimniste Floh ein ausser-
ordentliches Meisterstück der Interpretation
gewesen sei. Dennoch muss ich gestehen:
sie ist mir als Künstlerin kaum je voll-
endeter erschienen als in jenem Augen-

blick. Denn wenn ich annehme, dass es
Gina jucken könne — so und nicht anders
hätte sie auf den Hautreiz reagieren
müssen; die Bewegung war ein Beitrag
zur Charakteristik.

Das Gastspiel der Sandrock im Raimund-
Theater zeigt die Künstlerin auf einer auf-
steigenden Linie. Von ihrer »Magda« will
ich nicht sprechen. Denn da spielt die
Sandrock sich selbst. Sie spielt sich glän-
zend. Sie ist nicht genug zu loben. Hoch
stand die Schauspielerin auch als »Juana«
in Bahrs gleichnamigem Drama. Welche
Leistung! Wenn es den Anschein ge-
wann, als ob Herman Bahr die Schere
der Parzen als Narrenpritsche verwende,
wenn die Menge durch die komischen
Sprünge der tragischen Muse ergötzt
war, wenn der Widerspruch zwischen
dem schweren Ernste des Stoffes und
dem leichten Sinne der Ausführung sich
in hämischem Gelächter äusserte —
die Sandrock allein vermochte die feind-
liche Stimmung zu bannen. Sie stemmte
sich einer Heiterkeit entgegen, die alle
Dämme zu überfluten drohte. Sie erzwang
sich Gehör. Das war ein starker Beweis
ihrer Macht über die Zuschauer. Aber der
Aufwand an Anstrengung erwies auch
klar die inneren Mängel der ihr zuge-
dachten Rolle. Ihre »Claire« (Hütten-
besitzer) hingegen zeigte lauter Farben,
deren Wirkung aufeinander sorgfältig ab-
gewogen war, lauter Töne, die aufeinander
gestimmt schienen — sie war ein orga-
nisches Meisterwerk.


»DIE HEILIGE ELISABETH.«
Von Dr. MAX GRAF (Wien).

Am Namenstage unserer verstorbenen
Kaiserin wurde im Wiener Hofoperntheater
Liszts »Heilige Elisabeth« nach
längerem Zeiträume wieder aufgeführt. Es
sind ganz äusserliche Beziehungen, welche
die Wahl dieses Werkes zum musikalischen
Hochamte bestimmt haben. Sie liegen im
Texte, nicht in der Musik.

Die Art der Aufführung, ihr Anlass, der
Tag hat in mir ein Hin und Her der Ge-

danken von der Liszt’schen Musik zur Gestalt
der verstorbenen Fürstin erzeugt, das ich hier
in seinen Resultaten zu fixieren versuchen will.

Die Gestalt Liszts, seine Kunst und
sein Denken sind ein Product der feinsten
und reifsten Cultur. Zweitausend Jahre
Cultur- und Musikgeschichte mussten ver-
gehen, ehe eine so complicierte Bildungs-
form, wie das Leben Liszts und seine
Werke, möglich geworden ist. Goethe,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 41, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0041.html)