Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 40

Die neue freie Sandrock (Ludassy, J. v.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 40

Text

LUDASSY: DIE NEUE FREIE SANDROCK. DIE NEUE FREIE SANDROCK.
Von J. v. LUDASSY (Wien).

Unsere Sandrock ist eine frei gewordene
Kraft. Mit lange niedergehaltener, mit
lechzender Spielwuth stürmt sie auf die
Bühne hinaus. Sie bewegt sich auf ihr
mit jenem wilden Behagen, das ein Panther
empfinden mag, wenn er die rostigen
Stäbe seines Käfigs endlich mit verzweifel-
tem Prankenschlage niedergebrochen hat
— wenn er dann mit weitem Sprunge
wieder Besitz ergreift von der schweifen-
den Fessellosigkeit, von der Lust an der
eigenen Willkür. Ungebundenheit ist für
jede wirkliche Individualität sicherlich der
wünschenswerteste Zustand, der höchste
Zweck, das Paradies auf Erden. Aber
zugleich die grösste Gefahr.

Es gibt Leute, die behaupten, dass
ein Bühnenkünstler, der nicht domiciliert
ist, zugrunde gehen müsse. Und sie ver-
weisen auf Dawison. In der That, Dawison
hat sein Genie in Brüche gehen sehen.
Aber er ist ein Beispiel, er ist kein Beweis.
Denn es hat auch Meister gegeben, die
in der Seßhaftigkeit verdorben wären und
die sich in der Freiheit ihre Grösse erobert
haben. Ein solcher ist Mitterwurzer ge-
wesen. Für ihn war das Virtuosenthum
ein Stahlbad, in das er krank und müde
hinabstieg — aus dem er stark und frisch
wieder emportauchte. Wenn nun der eine
am Gastspiele verfällt und der andere
unter denselben Bedingungen gedeiht, so
kann das Arge nicht in diesen liegen,
sondern in den Individuen. Und nicht die
Freiheit ist das Schädliche, sondern der
Gebrauch, der von ihr gemacht wird —
ihr Missbrauch. Dawison raste mit einigen
dämonischen Rollen durch die Welt; er
war sich selbst der Goldesel, den er
striegelte, bis er erschöpft zusammenbrach.
Mitterwurzer bummelte durch die deutschen
Gaue, immer bedacht, das Neue aufzu-
nehmen und sich zu erneuen. Dawison
gieng schliesslich in diabolischen Mätzchen
unter. Mitterwurzer verlosch, nachdem er
der staunenden Mitwelt Musterbilder ein-
heitlicher Charakteristik entrollt hatte. Die
Sandrock ist heute die grosse Schauspielerin
der weiblichen Instincte. Sie steht auf dem
Scheidewege. Vor ihr liegen zwei Pfade.

Welchen Weg wird die Sandrock
wandeln? Den Weg Dawisons oder den
Mitterwurzers? Diese Fragen sind nicht
leicht zu beantworten. Denn wir haben es
hier mit einem unberechenbaren Elemente
zu thun, das uns nur unbestimmte Ver-
muthungen gestattet. Das Virtuosenthum,
dem die Rolle — eine Mittel ist, um die
Kunst zu zeigen, kennzeichnet sich durch
verschiedene Merkmale. Sein Können ist
grösser als sein Talent. Es verträgt daher
nur Aufgaben, die ihm liegen. Es lässt
Theile der künstlerischen Arbeit, die ihm
nicht dankbar scheinen, fallen. Es bringt
Wirkungen ohne zureichenden Grund zu
Tage, um die artistische Kraft zu beweisen;
es schluchzt, wo es weinen, es jubelt, wo
es sich freuen sollte. Es bietet somit
Schönheiten am unrichtigen Orte. Etwas
am unrichtigen Orte hat aber nur den
Wert eines Anlasses zur Thätigkeit des Hin-
wegräumens: es ist Schmutz im weitesten
Sinne. Von all diesen Symptomen der
künstlerischen Degeneration ist an der
Sandrock keines zu bemerken, weder
die Übertreibung noch das Gegenstück
derselben, das man Untertreibung nennen
könnte, das rein äusserliche Markieren un-
willkommener Scenen, wie es Döring liebte
und auch Kainz nicht hasst. Sie hat somit
in dem Gefühle nachquellender Kraftfülle
noch nicht das Bedürfnis, mit ihrer Leistung
zu sparen. Sie ist in jedem Augenblicke
mit der ganzen Seele bei der Sache. Dies
wird am stummen Spiele ganz besonders
deutlich. In dieser Hinsicht bewundere ich
seit zwanzig Jahren eine Kühnheit der
Sarah Bernhardt. Sie spielte damals die
Andromache. Mounet-Sully lag eben vor
ihr auf den Knien und orgelte ihr eine
emphatische Liebeserklärung vor. Die
Bernhardt hatte darauf mit einer Tirade zu
antworten. Was that der verwöhnte Lieb-
ling der Pariser inzwischen? Er griff mit
der zarten Rechten nach rückwärts und
holte zunächst aus einer Tasche im Peplon
ein niedliches Battisttaschentuch hervor.
Von diesem wurde gelassen ausgiebiger
und nicht ganz geräuschloser Gebrauch
gemacht. Dann wurde es wieder in die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 40, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0040.html)