Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 33

Ein »Wiener« Der Künstler-Kritiker (Altenberg, PeterWilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 33

Text

WILDE: DER KÜNSTLER-KRITIKER.

Die Verwandten der Dame sagten:
»Soll sie so überspannt werden wie
er?! Gott sei Dank, versteht sie es
nicht.«

Aber die junge Dame sagte zu ihm:
»Für Sie müsste Japan das Idealland
sein. Denn die dortselbst wunderbar
blühenden Apfelbäume bringen es nie
zu Früchten!«

›Was sucht er in den Gärten?!«
sagte man.

»Die Bonnen.«

«Er hat der Marie Renard einen
verrückten Brief geschrieben — — —.«

»?!«

»Ich möchte Ihr Schicksal kennen
lernen, Fräulein. Es muss schrecklich
sein. Denn die Vollkommenheiten sind
etwas, woran die Menschen sich am
schrecklichsten versündigen!«

Manche betrachteten ihn als ihren
Seelenarzt, consultierten ihn ganz
einfach über Bauchweh der Seele.
Andere hielten ihn für einen Charlatan.

Einer citierte den Baron von L.:
»Dichter sind Narren, welche dem Schick-
sal ein Schnippchen geschlagen haben.
Auferstandene vom — — Irrenhause!«

Aber Frau S. erwiederte sanft:
»Bitte, gibt es nur das Leben auf
unserer Erde, mit Lungenathmen und
Herzpumpe?! Denken Sie, am Saturn,
am Mars, auf Milliarden Welten! Lebe-

wesen unter anderen Umständen ganz
einfach. Sie athmen vielleicht mit den
Augen oder gar nicht. Gibt es dort
Geschlechter?! Wie liebt man sich da-
selbst?! Kann man es controlieren mit
unseren Erdorganen?! Nun also! Zum
Beispiel, könnte es nicht Menschen
geben, die von der Schwerkraft frei
wären?! Und sind die ‚moralischen
Kräfte‘ in uns nicht ‚Schwerkräfte der
Erde‘ für unser Nervensystem?! Wir
können uns nicht erheben. Und die
sexuellen Anziehungskräfte?! Und die
von Gewohnheit und Vererbung?! Von
Schwerkraft Freie
! Das ist es!
Jedoch wir Bleiernen?!«

Seitdem nannten ihn viele: Mars-
bewohner.

Die Verteidigung der Dame kam
ihm zu Ohren.

Er gieng in einen seiner Lieblings-
gärten, stand lange vor den wohl-
erzogenen Blumenbeeten, die für nichts
ihre Schönheit gaben.

»Uns erkennen!« dachte er, »letztes
Zauberwort, das uns noch treffen, uns
noch rühren kann! Hier ist die Stelle,
an der gleichsam das Lindenblatt fiel.
Hier liess uns das Leben nicht hörnern
werden!! Frau S.! Amen.«

Später sagte man: »Der Mars-
bewohner hofiert Frau S. Ob er sie
‚kriegen‘ wird?!«


DER KÜNSTLER-KRITIKER.
Ein Gespräch von OSCAR WILDE.*

Ort der Handlung: Das Bibliothekzimmer
eines Junggesellenheims in Piccadilly.

Personen: Gilbert und Ernst.

Zeit: Gegenwart.

Gilbert (am Clavier). Mein lieber Ernst,
worüber lachst du?

Ernst (aufblickend). Über eine präch-
tige Erzählung aus einem Band von Me-
moiren, die auf deinem Tisch lagen. Im
Ganzen, weisst du, kann ich Memoiren
nicht leiden. Unser Publicum hat sie desto
lieber, weil es sich immer am wohlsten
fühlt, wenn es mit der Mittelmässigkeit
auf vertrautem Fusse steht.

Gilbert. Ja, unser Publicum ist von einer
rührenden Anspruchslosigkeit. Es verzeiht
alles, ausgenommen Genie. Aber ich ge-
stehe, dass ich Memoiren ganz gerne lese.
In der Literatur ist der Egoismus sehr
anziehend und selbst im wirklichen Leben
ist er nicht ohne Reiz. Wenn die Menschen
über andere reden, sind sie gewöhnlich
langweilig; wenn sie von sich anfangen,
werden sie meistens unterhaltend. Könnte
man sie wie ein Buch zuklappen, sobald
sie geistlos werden. —

Ernst. Ja, könnte man à propos,
wir wurden vorhin unterbrochen in unserem

* Aus dem Essay »The critic as artist«. Auszugsweise übertragen von W. S.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 33, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0033.html)