Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 34

Der Künstler-Kritiker (Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 34

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WILDE: DER KÜNSTLER-KRITIKER.

Gespräch über Kunstkritik. Du behauptetest,
dass, wenn ein Kunstwerk unverständlich
ist, es eine Profanie wäre, es erklären zu
wollen. Ich kann dir nicht beistimmen.
Ich finde aber, dass es überhaupt in Zeiten
höchster Kunstblüte gar keine Kritiker
gegeben hat.

Gilbert. Wo haben wir diesen Satz
doch schon einmal gehört, Ernst. Er be-
sitzt die ganze Zähigkeit des Irrthums und
die Langeweile eines alten Bekannten.

Ernst: Du brauchst nicht so weg-
werfend »dein Haupt zu schütteln«. Es
ist so. In den besten Zeiten der Kunst
hat es keine Kunstkritiker gegeben, keine
Kunstcongresse, keine Zeitschriften, in denen
die Allzufleissigen über das plappern, wovon
sie nichts verstehen. Die Griechen hatten
keine Kunstkritiker. An den schilfbewach-
senen Ufern des Ilyssus stolzierte kein
dummdreister Journalismus umher, um
sich als Richter aufzuspielen, während er
als Angeklagter auf dem Armesünderstuhl
um Verzeihung bitten müsste.

Gilbert. Doch ich will die reizend
unwahre Anschauung nicht zerstören, die
du dir zurechtgelegt hast über das Ver-
hältnis des hellenischen Künstlers zum
Geist seines Zeitalters. Eine ausführliche
Beschreibung von dem zu machen, was
nie stattgefunden hat, ist nicht nur die
einzige Beschäftigung des Historikers,
sondern das unveräusserliche Vorrecht
jedes begabten Culturmenschen.

Ernst. Du bist schrecklich, Gilbert!
Was haben denn die Griechen uns an
Kunstkritik hinterlassen?

Gilbert. Mein bester Ernst, selbst wenn
nicht ein einziges Blättchen aus helleni-
schen Tagen uns überliefert worden wäre,
so würde es dennoch wahr sein, dass die
Griechen ein Volk von Kunstkritikern ge-
wesen sind, dass sie die Kritik der Kunst
überhaupt erfunden haben, wie sie die
Kritik auf alles und jedes anwandten.
Worin besteht denn im Grunde unsere
höchste Dankesschuld den Griechen gegen-
über? In dem kritischen Geist, den sie uns
hinterlassen haben. Ich kann es verstehen,
wenn man sagt, dass der schöpferische
Genius der Hellenen am Kritischen zu
Grunde gieng, aber unerklärlich ist es
mir, wie man behaupten kann, dass dieses

Völkchen, dem wir den Kritischen Geist
verdanken, nicht kritisiert habe! Du wirst
kaum verlangen, dass ich Dir eine Vor-
lesung halte über den hellenischen Kriti-
cismus von Plato bis Plotinus. Die Nacht
ist zu herrlich dafür und der Mond, wenn
er uns hörte, würde sein bleiches Gesicht
mit noch mehr Asche bedecken, als so
schon darauf liegt. Aber denke nur an
ein vollkommenes kleines Werk ästheti-
scher Kritik, an Aristoteles’ Tractat über
die Dichtkunst. Es ist unfertig in der Form,
besteht eigentlich aus einer Reihe von
Notizen zu einem Vortrage, oder aus ab-
gerissenen Fragmenten zu einem grösseren
Werk, aber in der Tendenz und Auf-
fassung steht es absolut unerreicht da.
Die ethische Wirkung der Kunst und ihre
Bedeutung für die Cultur, sowie ihre Auf-
gabe für die Entwicklung des Charakters
ist ein- für allemal von Plato festgestellt
worden. Hier dagegen haben wir Kunst,
nicht nach der moralischen, sondern nach
der ästhetischen Seite behandelt. Aristo-
teles, wie Goethe, erläutert die Kunst in
erster Linie aus ihren concreten Erschei-
nungen heraus, untersucht das Tragische
hinsichtlich seines Mittels (die Sprache),
seines Gegenstandes (das Leben), seiner
Methode (die Handlung), der Bedingun-
gen, unter denen es offenbart wird (die
theatralische Darstellung) und seines logi-
schen Aufbaues, sowie seines ästhetischen
Appells an den Sinn für die Schönheit,
ausgedrückt durch die Gefühle des Mit-
leids und des Schreckens. Jene Veredlung
und Vergeistigung der Natur durch das,
was er χάθαρσίς (Kathársis) nennt, ist,
wie Goethe erkannte, wesentlich ästhe-
tisch und nicht moralisch, wie Lessing
glaubte.

Ernst. Nun, in dem Sinne, wie Du
es auffasst, will ich zugeben, dass die
Griechen ein Volk von Kunstkritikern
waren. Aber gleichzeitig muss ich sie
etwas bemitleiden. Denn die schöpferische
Anlage steht unvergleichlich höher als die
kritische,

Gilbert. Die Gegenüberstellung der
beiden ist rein willkürlich. Ohne die kri-
tische Anlage gibt es keine wahrhaft
schöpferische That, die des Namens wert
wäre. Jener feine Takt der Auswahl und
Auslassung, durch den der Künstler sich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 34, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0034.html)