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auszeichnet, ist in Wirklichkeit nur das
Walten der kritischen Fähigkeit in einer
ihrer am feinsten ausgeprägten Func-
tionen, und wer sie nicht besitzt, vermag
überhaupt gar nichts zu schaffen.
Ernst. Ich hatte gedacht, dass grosse
Künstler unbewusst arbeiteten, dass sie
»weiser seien, als sie wüssten«, wie, glaube
ich, Emerson einmal bemerkt.
Gilbert. In Wahrheit ist es nicht so,
Ernst. Jede gute Arbeit der schaffenden
Vorstellungskraft ist selbstbewusst und
überlegt. Kein Dichter singt, weil er singen
muss. Wenigstens kein grosser. Ein grosser
Dichter singt, weil er Lust hat zu singen,
weil er singen will. So ist es jetzt, so ist
es immer gewesen. Jedes Jahrhundert,
welches Poesie hervorbringt, ist insofern
ein »künstliches« Jahrhundert und die
Arbeit, die uns wie das natürliche und
einfache Product ihres Zeitalters erscheint,
ist immer das Resultat bewusstester Ab-
sicht und Anstrengung gewesen. Glaube
mir, Ernst, es gibt keine schönen Künste
ohne das Sich-selbst-bewusst-werden und
dieses Sich-selbst-bewusst-werden und der
kritische Geist sind eins und dasselbe.
Ernst. Es ist viel Wahres in dem,
was Du sagst. Du sprichst von dem
Kritischen als von einem wesentlichen
Element des Schöpferischen und ich ac-
ceptiere Deine These. Aber wie steht’s um
die Kritik, unabhängig vom Schaffenden?
Ich habe eine alberne Gewohnheit, Zeit-
schriften zu lesen und muss gestehen,
dass weitaus die meiste moderne Kritik
mir völlig wertlos erscheint.
Gilbert. Genau so wie die meiste
schöpferische Arbeit! Mittelmässigkeit wägt
die Mittelmässigkeit ab, und Unfähigkeit
klatscht dem Genossen Beifall. Und doch
fühle ich, dass ich etwas ungerecht ur-
theile. In der Regel sind die Kritiker —
ich meine natürlich die bessere Classe —
bei weitem gebildeter als die Leute, deren
Arbeit sie zu beurtheilen berufen sind.
Das widerspricht übrigens unseren Er-
wartungen keineswegs, denn kritische
Fähigkeit setzt weit mehr Cultur voraus
als die schöpferische.
Ernst. Wirklich?
Gilbert. Gewiss. Jeder kann einen drei-
bändigen Roman zusammenschreiben; das
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erfordert weiter nichts als eine vollkommene
Unkenntnis des Lebens und der Literatur.
Ernst. Aber, mein Junge, Du lässt
Dich denn doch von Deiner Begeisterung
für Kritik zu weit treiben! Du musst doch
zugeben, dass es schwerer ist, ein Ding
zu thun, als darüber zu reden?
Gilbert. Keineswegs! Das ist ein grober
Irrthum. Es ist viel schwerer, über ein
Ding zu schreiben, als es zu machen.
Was ist Handlung? Sie stirbt im Augen-
blick ihrer Ausführung durch sich selbst.
Sie ist eine gemeine Concession an die
Thatsachen. Die Welt ward von dem
Sänger geschaffen — für den Träumer.
Ernst. Während Du das sprichst,
scheint mir’s auch so
Gilbert. Es ist so. Die Kritik ist selbst
eine Kunst. Und genau so wie künstle-
risches Schaffen die Thätigkeit der kritischen
Anlage voraussetzt und gar nicht ohne sie
bestehen kann, so ist auch Kritik wahr-
haft schöpferisch im höchsten Sinne des
Wortes. Kritik ist wirklich ebenso schö-
pferisch wie unabhängig.
Ernst. Unabhängig?
Gilbert. Ja, unabhängig. Kritik darf
ebenso wenig nach dem niederen Masstab
der Nachahmung und Ähnlichkeit be-
urtheilt werden, wie ein Werk des Dichters
oder Bildhauers. Der Kritiker steht in dem-
selben Verhältnis zum Kunstwerk, wie der
Künstler zu der sichtbaren Welt von Form
und Farbe, oder zur unsichtbaren Welt
der Leidenschaften und Gedanken.
Ernst. Aber ist Kritik wirklich eine
schöpferische Kunst?
Gilbert. Weshalb denn nicht? Sie
arbeitet mit gegebenem Material und
bringt es in eine Form, zugleich neu und
reizvoll. Was anderes ist Poesie? Ich
möchte Kritik eine »Schöpfung ohne die
Schöpfung« nennen! Mehr noch, ich
möchte behaupten, dass der höchste
Kriticismus als die reinste Form persön-
lichen Eindrucks in seiner Weise schö-
pferischer ist als das Schöpferische. Man
kann von der Erfindung an die Wirklich-
keit appellieren; aber von der Seele gibt
es keine Berufung!
Ernst. Von der Seele?
Gilbert. Ja, Von der Seele. Das ist
nämlich die höchste Kritik, eine Chronik
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