Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 36

Der Künstler-Kritiker (Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 36

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WILDE: DER KÜNSTLER-KRITIKER.

unserer eigenen Seele, ein Selbst-
bekenntnis
. Es ist die einzige verfeinerte
Form der Selbstbiographie; sie befasst sich
nicht mit den Thaten, sondern mit den
Gedanken unseres Lebens; nicht mit den
äusseren Zufällen und Umständen, sondern
mit inneren Stimmungen und Leidenschaften
der Einbildungskraft. Ich finde die Eitel-
keit der Schriftsteller und Künstler unserer
Tage sehr komisch, die zu glauben scheinen,
der Beruf des Kritikers sei in erster Linie, über
ihre Durchschnittsarbeiten zu schwatzen. Des
Kritikers einzige und höchste Aufgabe ist,
seine Eindrücke zu sammeln; für ihn werden
Bilder gemalt, Bücher geschrieben und Mar-
morblöcke zu schönen Formen ausgehauen.

Ernst. Es gibt, wenn ich mich recht
entsinne, noch eine andere, von dieser
Auffassung sehr verschiedene Definition
der Kritik, Gilbert.

Gilbert. Zweifellos, und ihren Urheber
verehren wir mit Recht. Aber es liegt
ein Irrthum oder doch ein Mangel in
seiner Theorie. Wer kümmert sich heute
darum, ob John Ruskins Ansichten über
Turner richtig sind oder nicht? Diese
machtvolle und königliche Prosa, so ein-
dringlich und so feurig in ihrer edlen
Beredsamkeit, so reich in ihrer musi-
kalischen Vielstimmigkeit, so überzeugt
und sicher, ist zum wenigsten in ihrer
feinen Auslese von Wort und Klang ein
ebenso grosses Kunstwerk wie irgend einer
jener wunderfarbigen Sonnenuntergänge,
welche auf der verwitterten Leinwand
bleichen und zerfallen in Englands Galerien.
Je länger ich darüber nachdenke, je
deutlicher sehe ich, dass die Schönheit
der sichtbaren Künste, wie die der Musik,
vor allen Dingen impressiv ist und dass
sie gestört werden kann und oft wird
durch ein Übermass an intellectueller Ab-
sicht von Seiten des Künstlers. Sobald das
Werk fertig ist, hat es gleichsam sein
eigenes Leben, und kann, unabhängig und
frei, eine Botschaft verkünden, neben und
ganz abweichend von der, welche ihm
ursprünglich, in den Mund gelegt ward.
Die Schönheit hat so viele Bedeutungen
wie der Mensch Stimmungen hat. Sie ist
das Symbol der Symbole. Sie offenbart
alles, weil sie nichts Bestimmtes ausdrückt;
zeigt sie sich selbst nur, so zeigt sie
uns die ganze feuerfarbige Welt!

Ernst. Aber ist solche Kritik, von der
Du sprichst, wirkliche Kritik?

Gilbert. Es ist die höchste Kritik.

Ernst. Die höchste Kritik wäre also
schöpferischer als das Schöpferische?

Gilbert. Ja. Dem Kritiker wird das
Kunstwerk einfach zu einer Anregung für
ein zweites Kunstwerk, welches nicht noth-
wendigerweise eine strenge, oberflächliche
und augenfällige Übereinstimmung mit dem
zu haben braucht, worüber er kritisiert.
Durch eine gewisse absichtliche Unvoll-
kommenheit und wohldurchdachte Ein-
schränkung wird Kunst erst vollkommen
in der Schönheit und wendet sich nicht
an die Kraft der Erkenntnis und der Ver-
nunft, sondern an den reinen Schönheits-
sinn allein, welcher, während er Vernunft
und Erkenntnis als seine Handlanger be-
nutzt, sie beide einem einheitlichen um-
fassenden Eindruck des Werkes als Ganzes
unterordnet. Eine gewisse Verwandtschaft
wird zweifellos das schöpferische Werk
des Kritikers mit dem Werke haben,
welches ihn zur zweiten (kritischen)
Schöpfung angeregt hat; aber es wird eine
Verwandtschaft sein, nicht wie zwischen
der Natur und dem Spiegel, sondern wie
zwischen der Natur und dem Empfinden
des decorativen Künstlers. Gerade so wie
die Tulpen und Rosenblüten, obwohl sie
auf Teppichen von Persien nicht in sicht-
barer Gestalt erscheinen, dennoch gleich-
sam darauf blühen und lieblich anzuschauen
sind; gerade so wie der violette Perlen-
schimmer der Seemuschel aus den Ge-
wölben der Markuskirche in Venedig wieder-
strahlt; ebenso wie die Kuppeldecke der
Kapelle in Ravenna wundervoll glänzt in
der gold-grün- und saphirnen Pracht des
Pfauenschwanzes, obgleich Junos Vögel
nicht darüber hinfliegen: so schafft der
Kritiker das Werk neu, das er kritisiert,
in einer Weise, die nicht nachahmend
ist und deren Reiz zum Theil in einer
gewissen Zurückweisung solcher blinden
Nachahmung besteht. Auf diese Weise
zeigt er uns nicht nur den Sinn, sondern
vielmehr das Mysterium der Schönheit
und, indem er jede Kunst in Literatur um-
setzt, löst er ein- für allemal das Problem
von der Einheit der Künste.

Aber es ist Zeit zum Nachtmahl. Nach-
dem wir eine Flasche Chambertin und einige

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 36, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0036.html)