|
Ortolans genossen haben, wollen wir über-
gehen zu der Frage des Kritikers vom
Standpunkte des Dolmetschers.
Ernst. Aha! Du gibst also doch zu,
dass dem Kritiker auch gelegentlich gestattet
werden muss, die Dinge so zu betrachten,
wie sie wirklich sind?
Gilbert. Das weiss ich noch nicht.
Vielleicht kann ich das nach dem Essen
zugeben. Es liegt eine merkwürdige
Suggestionskraft im Essen
Ernst. Die Ortolans waren köstlich und
Dein Chambertin einzig. Lass’ uns also
zum Gegenstand zurückkehren, Gilbert.
Gilbert. Ach nein, noch nicht. Die
richtige Conversation sollte alles berühren,
aber sich nirgends aufhalten und vertiefen.
Lass’ uns sprechen über »Die moralische Ent-
rüstung, ihren Ursprung und ihre Heilung«,
ein Thema, worüber ich schreiben möchte,
oder über einen ähnlichen Gegenstand.
Ernst. Nein, nein, ich will die Kritik
erörtert haben. Du hast mir gesagt, dass
die höchste Kritik mit der Kunst als ein
Impressives (Beeindrückendes) und nicht
als Expressives (Ausdrückendes) zu thun
hat; dass sie infolgedessen sowohl schöpfe-
risch wie unabhängig ist, eine Kunst für
sich, welche in demselben Verhältnis zum
geschaffenen Werke steht, wie das ge-
schaffene Werk zur sichtbaren Welt von
Form und Farbe oder zur unsichtbaren
Welt der Leidenschaften und Gedanken.
Nun sage mir aber auch, Gilbert, glaubst
Du nicht, dass der Kritiker manchmal ein
wirklicher Interpret sein kann und muss?
Gilbert. Ja, der Kritiker wird ein Inter-
pret sein, wenn es ihm gefällt, wenn er
dazu aufgelegt ist. Er kann von dem synthe-
tischen Eindruck des Werkes als Ganzem
übergehen zu einer Analyse oder Exposition
der Arbeit selbst und in dieser — nach
meinem Dafürhalten untergeordneten —
Sphäre findet er gewiss eine Menge an-
regender, lehrreicher und entzückender
Dinge zu sagen und zu schreiben. Dennoch
wird es nicht immer sein Ziel sein, das
Kunstwerk nur zu erklären und zu be-
schreiben. Vielmehr wird er der Kunst wie
einer Göttin gegenübertreten, deren Ge-
heimnis zu vertiefen seine Aufgabe sein
muss und deren Majestät noch hehrer und
staunenswerter in den Augen der Menschen
|
erscheinen zu lassen, sein unveräusserliches
Vorrecht ist.
Und hier, Ernst, tritt das Seltsame ein:
der Kritiker wird in der That ein Dol-
metscher sein, aber kein Dolmetscher im
Sinne desjenigen, der einfach einen Satz
in einer anderen Sprache wiederholt. Denn
gerade so wie die Kunst eines Landes erst
durch den Austausch und die Berührung
mit fremder Kunst jenes individuelle und
selbständige Gepräge erhalten kann, welches
wir das Nationale nennen, so kann auch
nur durch die volle Ausbildung seiner eigenen
Persönlichkeit der Kritiker die Persönlich-
keit und die Arbeit eines anderen ver-
dolmetschen lernen.
Ernst. Ich hätte geglaubt, dass in-
tensive Persönlichkeit ein störendes Element
sein müsste?
Gilbert. Im Gegentheil, sie ist ein
Element der Offenbarung. Wenn Du andere
verstehen willst, musst Du Dich selbst
verstärken.
Ernst. Was ist also das Endergebnis
nach Deiner Auffassung?
Gilbert. Ich will es Dir sagen, am
besten durch ein Beispiel. Es scheint mir,
dass — obwohl die literarische Kritik
obenan steht, weil sie den grössten Spiel-
raum und den weitesten Überblick hat —
jede der Künste gleichsam einen besonders
ihr beigegebenen Kritiker hat. So wird
z. B. der Schauspieler in gewissem Sinne
zum Kritiker des Dramas, der Sänger
oder der Lauten- und Flötenspieler zum
Kritiker der Musik. Der Radierer eines
Gemäldes beraubt das Bild seiner schönen
Farben, aber zeigt uns durch den Gebrauch
neuer Ausdrucksmittel seine echten Farben-
werte und -Töne und die Vertheilung seiner
Massen und wird auf diese Art sein (des
Bildes) Kritiker. Denn ein Kritiker ist der,
welcher uns ein Kunstwerk darstellt in
einer von dem Werke selbst abweichenden
Ausdrucksform und in diesem Sinne ist
der Gebrauch von neuem Material eine
kritische sowohl wie schöpferische Arbeit.
In Wirklichkeit gibt es gar keinen eigentlichen
Shakespeare’schen Hamlet. Wenn Hamlet
etwas von der Klarheit eines grossen Kunst-
werkes in sich trägt, so besitzt er dafür auch die
ganze Unbestimmbarkeit und Unergründlich-
keit, die zum Leben gehört. Es gibt so
viele Hamlets, wie es Melancholien gibt.
|