Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 38

Der Künstler-Kritiker (Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 38

Text

WILDE: DER KÜNSTLER-KRITIKER.

Ernst. So viele Hamlets, wie es
Melancholien gibt?

Gilbert. Ja; und da Kunst aus der
Persönlichkeit geboren wird, so kann sie
nur der Persönlichkeit offenbar werden
und aus dem Zusammentreffen beider ent-
springt die wirkliche interpretative Kritik.

Wir sprachen vorhin darüber, dass es
viel schwerer sei, über ein Ding zu reden,
als es zu thun. Lass’ mich Dir jetzt sagen,
dass das Allerschwerste in der Welt ist
— das schwerste und intellectuellste —
nichts zu thun.

Es sind aber nur die Auserwählten,
welche leben können, leben dürfen, um
nichts zu thun. Alle Handlung ist relativ
beschränkt. Unbeschränkt und absolut ist
die Vision dessen, welcher stille sitzt und
beobachtet, in Einsamkeit wandelt und
träumt. Aber wir können doch wiederum
nicht zur alten Philosophie zurückkehren
und selbst der Mystiker führt uns in das
Dunkel. Was sind uns die Erleuchtungen
eines Philo, der Abgrund eines Eckhart,
die Vision Jacob Böhmes, der furchtbar
grossartige Himmel selbst, der sich Sveden-
borgs geblendeten Augen erschloss? Solche
Dinge sind uns Ästhetikern weniger als
die kleinste Glockenblume auf dem Felde
oder als die geringste der sichtbaren Künste;
denn ebenso wie die Natur Stoff ist,
welcher zum Geist emporstrebt, so ist Kunst
Geist, welcher unter stofflichen Bedin-
gungen nach Ausdruck drängt. So spricht
sie selbst in ihren bescheidensten Offen-
barungen gleich stark zu unseren Sinnen
wie zu unserer Seele. Einem ästhetischen
Temperament ist das Verschwommene
immer unangenehm. Die Griechen waren
ein Volk von Künstlern und Kritikern,
weil ihnen der Begriff für das Unendliche
abgieng. Wie Aristoteles und wie Goethe
(nachdem er Kant gelesen hatte) verlangen
wir das Concrete, und nichts als das Con-
crete vermag uns zu befriedigen,

Ernst. Aber worin liegt hier der eigent-
liche Beruf des Kritikers?

Gilbert. In der Ausbildung der Ein-
bildungskraft!* Der echte Kritiker ist der,
welcher in seiner Seele aufnehmen kann

die Träume, Gedanken und Wünsche von
Myriaden Geschlechtern, dem keine Ideen-
form fremd ist, kein Gefühlsimpuls unver-
ständlich. Der wirkliche Culturmensch ist
der, welcher durch Erfahrung und feine
Auswahl den Gefühlsinstinct zu etwas
Bewusstem und Intellectuellem gemacht
hat, wodurch er befähigt ist, das, was
Rang und Vortrefflichkeit besitzt, von dem
zu unterscheiden, was sie nicht besitzt
und auf solche Weise, durch Neben-
einanderstellung und Vergleich, sich zum
Eingeweihten der Geheimnisse von Stil
und Schule macht, ihre Bedeutung erfasst,
auf ihre Stimmen lauscht und jenen Geist
unselbstsüchtiger Wissbegierde entwickelt,
welche die Wurzel und zugleich die Blüte
alles geistigen Lebens ist. Jeder Beruf
schliesst in gewissem Sinne ein Vorurtheil
in sich ein. Die Nothwendigkeit, einen
Beruf zu ergreifen, zwingt jedermann zu
irgend einer »Partei«. Wir leben im Zeit-
alter der Überarbeiteten, wo die Men-
schen so fleissig sind, dass sie absolut
stumpfsinnig werden. Sie verdienen ihr
Los übrigens, obwohl das hart klingt.
Ich sage Dir: das sicherste Mittel, um nichts
vom Leben zu wissen ist, sich »nützlich
zu machen«.

Ernst. Eine entzückende Lehre.

Gilbert. Das ist Geschmackssache,
aber sie hat wenigstens das geringere
Verdienst, wahr zu sein.

Ernst. Sage mir aber, findest du nicht
wenigstens, dass der Kritiker klar, gerecht
und aufrichtig vor allen Dingen sein muss?

Gilbert. Gerecht und aufrichtig? Ge-
wiss, der echte Kritiker wird immer auf-
richtig sein in seiner Hingebung an die
Schönheit, aber er wird Schönheit suchen
in jedem Zeitalter und in jeder Schule
und niemals an eine festgesetzte Gedanken-
richtung oder engumgrenzte Anschauung
sich festnageln lassen. Er wird sich
selbst erkennen in vielen Formen
,
und niemals Sclave — auch nicht seiner
eigenen vorübergehenden Stimmungen —
sein. Was ist Geist anders als Bewegung
in der intellectuellen Sphäre? Die Essenz
des Gedankens, wie die Essenz des Lebens

* Mit der Entwicklung des kritischen Geistes lernen wir nicht allein unser eigenes
Leben, sondern das Gesammtleben des Menschengeschlechts verstehen, und können auf
diesem Wege allein modern werden, in der einzig richtigen Bedeutung des Wortes.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 38, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0038.html)