Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 39

Der Künstler-Kritiker (Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 39

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WILDE: DER KÜNSTLER- KRITIKER.

ist Wachsthum. Du darfst dich nicht durch
Worte einschüchtern lassen, Ernst. Was
die Leute »Unaufrichtigkeit« nennen, ist
oft nur der Entwicklungsgang, durch den
wir unsere Persönlichkeit erweitern können.
Temperament ist das erste Erfordernis für
einen Kritiker, ein Temperament, unendlich
eindrucksfähig für die verschiedenen For-
men der Schönheit.

Ernst. Glaubst du übrigens, dass ein
echter Künstler jemals durch die Kritik
wesentlich beeinflusst werden kann?

Gilbert. Der Einfluss des Kritikers
wird sich unmerkbar aber sicher in der
Thatsache seiner Existenz offenbaren. In
ihm wird die jeweilige Cultur der Zeit
ihren Höhepunkt erreichen. Du darfst von
ihm nicht mehr verlangen als die Ver-
vollkommnung seines Selbst. Die erste
Forderung des Geistes ist, sich selbst
lebendig zu fühlen. Der Kritiker mag in
der That den Wunsch und das Bedürfnis
haben, Einfluss zu üben; aber er wird
weniger mit den einzelnen als mit der
Zeitströmung zu thun haben, welche er
zum klaren Bewusstsein ihrer selbst zu
bringen trachtet.

Ernst. Aber kann es nicht sein, dass
der Poet der beste Beurtheiler der Poesie
ist und der Maler der beste Kritiker der
Malerei? Jede Kunst muss doch wohl in
erster Linie auf die wirken, welche in
ihr schaffen?

Gilbert. Die Wirkung der Kunst wird
auf das künstlerische Temperament allein
ausgeübt. Sie wendet sich nicht an den
Specialisten. Weit entfernt davon, dass
Künstler die besten Kunstrichter sind, ver-
mögen sie in den meisten Fällen über-
haupt nicht die Arbeiten von anderen zu
beurtheilen. Gerade die Verdichtung der
Anschauung, welche zum Künstler macht,
schränkt schon durch ihre Intensität die
Fähigkeit der Unterscheidung und Wert-
schätzung ein. Des Künstlers Energie treibt
ihn blindlings auf das eigene Ziel los. Die
Räder seines Wagens wirbeln den Staub
gleich einer Wolke um ihn her.

Ernst. Du meinst also, dass grosse
Künstler eine Schönheit nicht leicht er-

kennen können, welche von der ihrigen
abweicht?

Gilbert. Es ist ihnen ganz unmög-
lich. Nur mittelmässige Künstler bewun-
dern gegenseitig ihre Werke. Sie nennen
das grossgeistig und vorurtheilsfrei sein.
Aber das Schöpferische verbraucht seine
ganze kritische Fähigkeit innerhalb seiner
eigenen Sphäre. Gerade weil ein Mensch
etwas nicht thun kann, ist er der beste
Beurtheiler desselben.

Ernst. Meinst du das wirklich?

Gilbert. Ja, denn Schöpfung be-
schränkt, Anschauung erweitert den Blick.
Niemals hat es eine Zeit gegeben, wo
Kriticismus nothwendiger war als jetzt.
Nur auf diesem Wege kann die Mensch-
heit zum Bewusstsein kommen, auf wel-
chem Punkte sie angelangt ist.

Ernst. Du hast mir heute Nacht recht
seltsame Dinge gesagt, Gilbert. Du hast
gesagt, dass es schwerer ist, über eine
Sache zu sprechen, als sie zu thun, und
dass nichts zu thun, das Allerschwerste
ist; dass Kriticismus schöpferischer ist als
das Schaffen; dass gerade darum, weil
ein Mensch etwas nicht thun kann, er
der beste Beurtheiler desselben ist; und
dass der echte Kritiker infolge dessen auch
etwas offenbaren darf, was der Künstler nicht
eigentlich in seinem Werke beabsichtigt
hat. Mein Freund, Du bist ein Träumer.

Gilbert. Ja, das bin ich. Denn ein
Träumer ist einer, der seinen Weg nur
im Mondenlicht findet, und seine Strafe
ist, dass er den Tagesanbruch sieht vor
der übrigen Menschheit!

Ernst. Seine Strafe?

Gilbert. Und sein Lohn. Aber sieh,
es dämmert schon. Zieh’ die Vorhänge
zurück und öffne die Fenster weit! Wie
kühl die Morgenluft ist. Piccadilly liegt
zu unseren Füssen wie ein langer silberner
Faden. Ein feiner violetter Dunst liegt
über dem Park, und die Schatten der
weissen Häuser sind violett. Es ist schon
zu spät, um zu schlafen. Lass uns nach
Covent-Garden hinunter gehen und die
Rosen ansehen. Komm, ich bin des Den-
kens müde.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 2, S. 39, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-02_n0039.html)