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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 54

Text

R.: 1848—1898.

Skeptik verursacht, die jetzt den un-
angenehmen Grundzug des Wiener
Charakters bildet; sie haben aus dem
»Wienerthum« ein culturschädliches
Element gemacht. Zuletzt freilich rich-
teten sich die Folgen ihres Treibens
gegen die Urheber — eine Art der
Verdummung hat bei uns die andere
abgelöst: das ist im wesentlichen die
Geschichte der Wiener »Cultur«.

Andere Umstände traten hinzu, um
den Niedergang zu beschleunigen. Aus
Deutschland gewaltsam ausgeschieden,
verlor Wien auch culturell alle Ver-
bindungen mit Europa: alle Zukunfts-
möglichkeiten. Solche Amputationen
verträgt kein Volk, so wenig wie

irgend ein anderer Organismus. Wien
hat sich von diesem Schlage nie er-
holt. Die unmittelbare Folge war der
Verlust der Hegemonie über die
Slaven und Ungarn, die früher von
Wien aus ihre Impulse erhalten hatten.
Ohne Verbindung mit dem Meere, muss
Wien auf den regenerierenden Kraft-
austausch mit andern Welttheilen ver-
zichten. Früher ein Centrum Mittel-
europas, ist es heute wieder wie vor
tausend Jahren die Hauptstadt des Erz-
herzogthumes Österreich unter der
Enns.

Das Schicksal Venedigs steht ihm
bevor — ein langsames Sterben.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 54, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-03_n0054.html)