Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 392

»Schicksale einer Seele«. Von Dohm (Ceconi-Huch, Ricarda)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 392

Text

BÜCHER.

vernünftig begründeten Handelns gar nicht
kommt, eigentlich vorwurfsfrei ist, ja in
ihrer thierhaften Verantwortungslosigkeit
sogar einen gewissen Reiz besitzt, ist mit
wahrhaft künstlerischer Unparteilichkeit
hingestellt. Ebenso Walter, der eine
Charakterverwandtschaft mit der Mutter
hat, alles gut und schön findet, was er
thut, nie in sich hineinsieht, schlechtweg
seiner derb egoistischen Natur folgt; die
Verfasserin hat es vermieden, ihn ganz
als das böse schwarze Schaf auszumalen.
Entsprechend der Art des ganzen Buches
ist die Charakterschilderung nicht die
moderne, feinpinselnde, die innersten Ein-
geweide blossiegende; die Personen offen-
baren ihr Wesen vorzugsweise handelnd,
oder es wird in wenigen grossen Zügen
angedeutet, wobei der Blick ins Innere
durchaus nicht etwa ganz fehlt.

Es ist ein schöner Zug in der neueren
Romanliteratur, dass man anstatt der alten
Haupt- und Staatsactionen anfängt, Seelen-
geschichten zu schreiben. Rousseaus Be-
kenntnisse dürften das erste grosse Muster
dieser Gattung sein; seitdem sind unter
den Deutschen immer wieder bedeutende
Versuche gemacht worden, Biographie und
Roman zu verschmelzen, wobei sich schon
daraus, dass das Thatsächliche hie und da ab-
geändert werden muss, die Nothwendigkeit
ergibt, es dem innerlichen Erlebnis gegen-
über als das Nebensächliche zu behandeln.

Allerdings wird jeder Dichter nur die Ge-
schichte einer Seele in classischer Weise
schreiben können, nämlich die seiner
eigenen, oder etwa auch die einer solchen,
die er wie seine eigene kennt und liebt.
Dagegen würde mancher eine vortreffliche
Geschichte seiner Seele schreiben können,
der keineswegs ein Dichter ist und sonst
nur ganz wertlose Romane zustande
brächte. Jedes Leben, wenn man es ganz
umfasst und durchschaut, ist interessant
wie ein Roman und wunderbar wie ein
Märchen, und jeder hat die Liebe oder
wenigstens doch das Interesse für sich
selbst, das vorübergehend zum Dichter
machen kann. Die Deutschen könnten auf
diesem Wege eine Memoirenliteratur er-
halten, die sich der der Franzosen eben-
bürtig zur Seite stellte: hier mehr Lebens-,
dort mehr Seelenbilder.

Auch das Buch »Schicksale einer
Seele« macht nicht den Eindruck, das
Werk eines grossen Dichters zu sein, es
liest sich nicht wie etwas in unvergäng-
liches Material Eingegrabenes, es hat nicht
die Form der Denkmale, die dauernder
als Erz sind. Aber es quillt so frisch und
stark, erscheint so wahr, es hat so viel
gute reine Natur in sich, dass man es
sammt den Helden und der Verfasserin
ins Herz schliesst und nicht so leicht
wieder vergisst.

Ricarda Ceconi-Huch .



Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. —Verantwortlicher Redacteur
Constantin Christomanos.

K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I. Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 392, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-16_n0392.html)