Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 391

»Schicksale einer Seele«. Von Dohm (Ceconi-Huch, Ricarda)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 391

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BÜCHER.

den Vorzug der Gesundheit und Kraft;
das überreizte Bewusstseinsleben tauchte
ins Unbewusste unter, um seine Kräfte in
einem langen Schlafe zu sammeln, und
inzwischen konnte die Menschheit, von
des Gedankens Blässe nicht angekränkelt,
sich austoben im handelnden Leben. Sie
war wie Walter, Marlenens Mann, der
Augen hat, die nie fragen, sondern immer
alles schon wissen, der mit einem höchst
geringen Aufwande von Ideen den Namen
eines bedeutenden Mannes erwirbt, der
ohne feinere seelische Bedürfnisse eben
durch seine Rohheit selbst erfreut und
imponiert, durch die unermüdliche Kraft
im Arbeiten und Geniessen. Marlene unter-
scheidet sich von diesen Menschen ihrer
Umgebung, ja sie, die noch ein Stück
von der alten oder schon eins von der
neuen Romantik in sich hat, leidet
unter völligem Mangel an Verständnis;
aber eine Gabe hat sie doch von ihrer
Zeit empfangen, die sie uns gerade so
sehr sympathisch macht: die Gesundheit.
Ihre Verträumtheit, Sentimentalität und
Phantasie sind eigentlich eine Folge ihrer
starken Sinnlichkeit, die so ganz naiv, un-
schuldig, unbewusst ist, nicht — wie die
so vieler moderner Menschen — vergiftet
durch die Einmischung des kritisierenden
Gedankens und der Selbstbeobachtung.

Aus ihrer Ganzheit entspringt die
freundliche Güte; die negativen Gemüths-
richtungen wie Hass und Neid kennt sie
nicht; trotz der vielen Quälereien, die ihre
Umgebung ihr zufügt, wird sie nie ge-
hässig, rachsüchtig oder verbittert, ebenso-
wenig misstrauisch und eifersüchtig, wie-
viel Ursache sie auch dazu hätte und
wieviel Schmerz es ihr auch bereitet, sich
verkannt oder betrogen zu sehen. Ur-
wüchsigkeit, Naivetät und Gesundheit
bilden die dichterische Kraft in ihr; hätte
sie ein ebenso reich veranlagtes Gehirn-
leben, so wären die Vorbedingungen für
eine grosse Künstlerschaft gegeben. Das
aber fehlt. Nicht nur, dass ihr Geist un-
entwickelt ist, er tritt überhaupt zurück
gegen Sinne und Phantasie. Bücher einiger-
massen gediegenen Inhalts ermüden sie
sogleich, sie will immer nur die Phantasie
nähren, ja sie denkt mittelst der Phan-
tasie. Es ist wahr, dass sich nie jemand
die Mühe gegeben hat, ihren Geist zu

wecken und zu bilden, und dass das ziel-
los müssige Leben einer Frau ihrer Zeit
und ihres Standes eher geeignet ist, den
Geist zu erschlaffen und zu tödten, als ihn
zu entwickeln; aber ein grosser Geist
offenbart sich auch beim Gänsehüten und
Farbereiben und schafft sich selber das,
was ihn aufweckt und zur Besinnung bringt.

Nun hat zwar die Verfasserin auch
nicht beabsichtigt, die Geschichte eines
Genies zu schreiben. Aber die dichterische
Veranlagung ihrer Heldin ist so deutlich,
ihre Schwungkraft und Naturfülle so schön
und reizend, dass man nicht umhin kann,
zu erwägen, warum eine so blütenvolle
Erscheinung doch keine Frucht trägt. Ich
stelle mir vor, dass in Sibilla Dalmar,
der Heldin des zweiten Romans in dieser
Folge, das bewusste Geistesleben erhöht
sein, dagegen der kräftige Naturinstinct
fehlen soll, der Marlene auszeichnet: ein
schwankendes, zerrissenes Übergangsge-
schöpf; und dass schliesslich Anna Marie
Rubens, die Vertreterin der jüngsten
Generation, ein nach allen Richtungen
harmonisch entwickelter, ganzer Mensch
sein wird.

Nach diesem einen Roman zu urtheilen,
gehört die Verfasserin zu den naiven
Schriftstellern, von denen Schiller sagt,
dass sie der Gefahr ausgesetzt sind, platt,
trivial zu werden, während die sentimen-
talen, wo sie die Grenze des Schönen
verlassen, ins Überspannte, Verstiegene
sich verirren. In der That, wo der Ton
des vorliegenden Buches überschwäng-
licher wird, hat die zunehmende Bilder-
fülle nie etwas Gesuchtes, Geschraubtes,
andererseits auch nur höchst selten etwas
geradezu Triviales; im ganzen ist die Bilder-
sprache natürlich und treffend zugleich.

Die erste Hälfte des Buches scheint
mir die bessere zu sein. Das Leben in
einer kleinbürgerlichen Familie Nord-
deutschlands um die Mitte dieses Jahr-
hunderts entfaltet sich da mit grosser
Klarheit und Wahrheit. Bewundernswert
ist die Objectivität, mit der die Eltern
geschildert sind, ganz ohne Pietät, was
in diesem Falle ja auch kaum natürlich
wäre, und doch nicht lieblos. Die robuste,
rohe, wirtschaftliche, gedankenlos grau-
same Mutter, die, da sie immer nur Im-
pulsen folgt und auf die Möglichkeit eines

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 391, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-16_n0391.html)