Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 345

Weltordnung und Sittlichkeit (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 345

Text

WELTORDNUNG UND SITTLICHKEIT.
Von MAURICE MAETERLINCK (Paris).

Vor nicht langer Zeit gab das Schicksal
bei einer fürchterlichen Katastrophe* wieder
einmal — und vielleicht auf eine sinn-
fälligere Weise denn je — Das kund,
was die Menschen seine Ungerechtigkeit,
seine Blindheit oder Gleichgiltigkeit nennen.
Es schien dort ausdrücklich die einzige
Tugend zu strafen, welche die Vernunft
uns noch gelassen hat, das ist die Nächsten-
liebe. Es ist wahrscheinlich, dass einige
vollkommen Gerechte in dem Kreise waren,
in den das Schicksal an jenem Abend
trat. Es scheint selbst gewiss, dass wenig-
stens Ein wahrhaft Gerechter und Selbst-
loser sich darunter befand. Die fast
sichere Anwesenheit dieses Gerechten lässt
uns die furchtbare Frage, die wir nicht
umhin können, uns zu stellen, in ihrer
ganzen Deutlichkeit aufwerfen. Wäre er
nicht dagewesen, so könnten wir uns
sagen, dass wir nicht wissen, aus welcher
Fülle von selbstherrlicher Gerechtigkeit
eine Ungerechtigkeit besteht, die uns un-
geheuer scheint. Wir könnten uns sagen,
dass eben Das, was man hienieden »Barm-
herzigkeit« nennt, vielleicht nur die zu
kecke Blüte einer fortdauernden Unge-
rechtigkeit wäre. Der Mensch kann sich
nicht zu dem Glauben entschliessen, dass
er bei allem, was von aussen kommt, nur
mit blinden Thatsachen und Kräften, mit
Wasser, Feuer, Luft, den Gesetzen der
Schwerkraft und einigen anderen zu
rechnen und zu kämpfen habe. Wir be-
dürfen einer Entschuldigung des Zufalls;
wenn wir ihn förmlich anklagen: —
sprechen wir ihn damit nicht in Ver-
gangenheit und Zukunft frei, mit jenem
peinlichen Erstaunen, das wir empfinden,
wenn wir vernehmen, dass ein guter
Mensch eine niedrige und gemeine Hand-
lung begangen hat? Wir gefallen uns
darin, einen idealen Zufall zu erfinden,
der gerechter ist als wir selbst, und wenn

er eine nach unseren Begriffen unent-
schuldbare Ungerechtigkeit begangen hat,
so schenken wir ihm, wenn der erste
Schrecken vorüber ist, im tiefsten Grunde
unseres Herzens doch unser Vertrauen
wieder, indem wir uns sagen, dass wir
nicht alles wissen, was er weiss, und dass
er Gesetzen gehorcht haben muss, in die
wir nicht eindringen können. Die Welt
schiene uns allzu schwarz, wenn der Zu-
fall nicht moralisch wäre. Dass es keine
Gerechtigkeit oder Moral gäbe, die über
die unsere wacht, das schiene uns die
Verneinung jeder Moral und Gerechtigkeit
selbst. Wir wollen nichts mehr von der
engen und niederen Moral von Zucker-
brot und Peitsche wissen, welche die posi-
tiven Religionen uns bieten; aber wir
vergessen, dass, wenn der Zufall das ge-
ringste Gerechtigkeitsgefühl besässe, die
hohe und selbstlose Moral, die wir er-
träumen, nicht mehr möglich wäre. Wenn
wir nicht überzeugt sind, dass der Zufall
absolut ungerecht ist, haben wir kein
Verdienst mehr an der Gerechtigkeit. Wir
verwerfen das Ideal des Heiligen und sind
überzeugt, dass die Erfüllung einer Pflicht
in der Hoffnung auf irgend einen Lohn
— und wäre dies nur die Befriedigung
der erfüllten Pflicht — in den Augen
eines weisen Gottes ungefähr denselben
Wert haben muss, wie wenn man Böses
thut, weil es einem nützt. Aber in
Wahrheit entdecken wir beim geringsten
Begebnis, dass wir kaum über die Moral-
bücher der Kinder hinaus sind, wo alle
Verbrechen bestraft werden. Wir hätten
vielmehr Musterbücher von bestraften
Tugenden nöthig. Sie wären den wahren
Seelen nützlicher und würden den Stolz
und die Energie im Guten besser unter-
halten. Verlieren wir nie aus den Augen,
dass gerade aus der Unsittlichkeit des
Zufalls eine neue Moral entstehen muss.

* Bei dem Brande des Wohlthätigkeitsbazars in Paris 1897.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 345, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0345.html)