Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 346

Weltordnung und Sittlichkeit (Maeterlinck, Maurice)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 346

Text

MAETERLINCK: WELTORDNUNG UND SITTLICHKEIT.

Es ist hier wie überall; je verlassener der
Mensch sich fühlt, desto mehr findet er
die dem Menschen eigene Kraft wieder.
Was uns bei diesen grossen Ungerechtig-
keiten beunruhigt, das ist die Verneinung
eines hohen Moralgesetzes; aber aus eben
dieser Verneinung entspringt unmittelbar
ein höheres Moralgesetz. Mit der Auf-
hebung von Züchtigung und Belohnung
beginnt die Nothwendigkeit, das Gute um
seines selbst willen zu thun. Machen wir
uns nie Gedanken darüber, wenn ein hohes
Moralgesetz zu verschwinden scheint: es
entsteht allemal ein grösseres dafür. Alles,
was wir der Sittlichkeit des Schicksals
andichten, nehmen wir unserem reinsten
sittlichen Ideale. Je mehr wir hingegen
überzeugt sind, dass das Schicksal nicht
gerecht ist, um so mehr läutern und er-
weitern wir vor uns die Gefilde einer
höheren Moral. Bilden wir uns nicht ein,
dass die Grundmauern der Tugend ein-
stürzen, weil Gott uns ungerecht erscheint.
In der sinnfälligsten Ungerechtigkeit Gottes
würde die menschliche Tugend endlich
ihre unerschütterlichen Grundlagen finden.

Was ist ein Act der Tugend, dass
wir so ausserordentliche Belohnungen von
ihm erwarten? Nur Die, welche nicht
wissen, was das Gute ist, fordern einen
Lohn für das Gute. Vor allem ver-
gessen wir nicht, dass ein Act der Tugend
allemal ein Act des Glückes ist. Er ist
allemal die Blüte eines langen, glücklichen
und zufriedenen Innenlebens. Er setzt
immer lange Tage und Stunden der Ruhe
auf den friedlichsten Gebirgen unserer
Seele voraus. Keine nachträgliche Be-
lohnung wiegt die ruhige Zufriedenheit
auf, die ihm vorangieng. Der Gerechte,
der in der eben genannten Katastrophe
umkam, war nur deshalb dort, weil seine
Seele eine Gewissheit und einen Frieden
im Guten hatte, den kein Glück, kein
Ruhm, keine Liebe ihm hätte geben können.
Wenn vor solchen Wesen die Flammen
sich aufthäten, die Wasser zurückwichen
und der Tod bisweilen anhielte: was wären
dann die Helden und die Gerechten?
Wohin käme das Glück einer Tugend,
die nur deshalb vollkommen glücklich ist,
weil sie edel und rein ist — und nur des-

halb edel und rein ist, weil sie keine Be-
lohnung erwartet? Es gibt eine mensch-
liche Freude, Gutes zu thun, indem man
einen Zweck dabei verfolgt; es gibt eine
göttliche Freude, Gutes zu thun und nichts
zu erhoffen. Man weiss im allgemeinen,
warum man Böses thut; aber je weniger
genau man weiss, warum man Gutes thut,
desto reiner wird das Gute sein, das man
thut. Um festzustellen, was ein Gerechter
wert ist, frage man ihn nur, warum er
gerecht sei; wahrscheinlich wird Der,
welcher am wenigsten zu antworten weiss,
der vollkommenste Gerechte sein. Es ist
möglich, dass die Gründe, welche eine
Seele zur Heldenthat treiben, mit der Aus-
breitung der Intelligenz abzunehmen
scheinen; aber zur selben Zeit wird die
Intelligenz gewahr, dass sie kein anderes
Ideal hat, als ein immer geheimeres und
selbstloseres Heldenthum.

Die Tragödien des Guten spielen sich
auf einer Bühne ab, die selbst dem Weisen
geheimnisvoll bleibt. Wir werden nur ihre
Lösung gewahr, aber wir wissen nicht,
in welchem Schatten oder Lichte diese
Lösung sich vorbereitet. Der Gerechte
kann sich nur das Eine vorsetzen, dass
sein Schicksal ihn bei einem Acte der
Barmherzigkeit erreichen soll. Er wird
dann nie anders als im Zustande der
Gnade betroffen werden, wie die Christen
es nennen, d. h. im Zustande innerer
Glückseligkeit. Und das heisst schon,
den bösen inneren Schicksalen alle, und
den Zufällen von draussen die meisten
Thore verschliessen.

In dem Masse, wie unsere Vor-
stellung von Pflicht und Glück sich er-
hebt, läutert sich das Gebiet des sitt-
lichen Leidens, und ist dieses nicht vor
allen andern das tyrannische Gebiet des
Schicksals? Unser Glück hängt im grossen
und ganzen nur von unserer inneren
Freiheit ab. Diese Freiheit wächst, wenn
wir Gutes thun. Es ist keine schöne
Redensart, sondern etwas sehr Reales,
dass Marc Aurel sich jedesmal befreit,
wenn er eine neue Wahrheit in der
Nachsicht entdeckt, jedesmal, wenn er
verzeiht oder denkt. Es ist noch weniger
Redensart, dass Macbeth sich bei jedem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 346, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0346.html)