Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 347

Weltordnung und Sittlichkeit (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 347

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MAETERLINCK: WELTORDNUNG UND SITTLICHKEIT.

seiner Verbrechen selbst kettet. Und alles,
was von einem grossen Verbrechen auf
einer königlichen Bühne und von einer
grossen Tugend in einem Heldendasein
wahr ist, gilt gleichermassen für die
kleinsten Fehler und die unbekannten
Tugenden des gewöhnlichen Lebens.
Rings um uns leben lauter unentwickelte
Marc Aurels und Macbeths, die nicht aus
ihrem Kämmerlein herauskommen. So
unvollkommen unsere Vorstellung vom
Guten auch sein mag, sobald wir sie
einen Augenblick aufgeben, liefern wir
uns den böswilligen Kräften von draussen
aus. Eine einfache Lüge gegen mich
selbst, die ich in meiner Seele still-
schweigend begrabe, kann meiner inneren
Freiheit ebenso verhängnisvoll werden,
wie ein Verrath auf öffentlichem Platze.
Und sobald meine innere Freiheit Ein-
busse erlitten hat, nähert das Schicksal
sich meiner äusseren Freiheit; wie ein
Tiger sich langsam seiner Beute nähert,
die er seit langem erspäht hat.

Gibt es ein Drama, in dem ein voll-
kommen schönes und weises Wesen so
tief leiden kann, wie der Böse? Es scheint
ausgemacht, dass auf dieser Welt das
Böse seine Züchtigung sicherer nach sich
zieht, als die Tugend ihren Lohn. Frei-
lich hat das Verbrechen die Gewohnheit,
sich mit grossem Geschrei selbst zu
strafen, während die Tugend sich im
Schweigen belohnt, welches der um-
friedete Garten ihres Glückes ist. Das
Böse endlich führt sinnfällige Katastrophen
herbei, aber ein Act der Tugend ist ein
stummes Opfer, das den tiefsten Gesetzen
des menschlichen Daseins dargebracht
wird. Und darum scheint uns auch die
Wage der grossen Gerechtigkeit zweifels-
ohne lieber nach der Schattenseite als
nach der Lichtseite zu sinken. Aber wenn
es wenig wahrscheinlich ist, dass es ein
»Glück im Verbrechen« gibt — gibt es
darum häufiger ein ›Unglück in der
Tugend«? Rechnen wir zunächst die phy-
sischen Leiden ab, die wenigstens, deren
Quelle in den dunkelsten Wäldern des
Schicksals verborgen liegt. Es ist selbst-
verständlich, dass ein Schwarm von

Henkersknechten den Spinoza auf die
Folter hätte spannen können, und dass
es den schmerzhaftesten Krankheiten un-
benommen ist, den Antonius ebenso zu
peinigen, wie Regan und Goneril. Aber
das ist nicht der menschliche, sondern
der animalische Antheil des Schmerzes;
wiewohl zu beachten ist, dass die Weis-
heit ihre jüngste Tochter, welche Wissen-
schaft heist, alltäglich ausschickt, um im
Gebiete des Schicksals just die Zone des
äusseren Leidens abzugrenzen. Aber wie
dem auch sei; es wird in diesem Bezirke
stets einen unzugänglichen Winkel geben,
wo das Missgeschick Herr bleibt. Es wird
immer einige Opfer einer unerklärlichen
Ungerechtigkeit geben, und wenn diese
uns betrübt, so lehrt sie uns doch zum
mindesten, einer wahreren, menschlicheren
und stolzeren Wahrheit Das beizulegen,
was wir einer zu mystischen Wahrheit
nehmen.

Wir werden erst an dem Tage
wahrhaft gerecht, wo wir dahin kommen,
in uns allein das Vorbild der Gerechtig-
keit zu suchen. Zuletzt führt die Un-
gerechtigkeit des Schicksals den Menschen
auf seine Stellung im Weltall zurück. Es
ist ihm nicht heilsam, sich unablässig
umzusehen, wie ein Kind, das seine
Mutter noch sucht. Man glaube nicht,
dass aus diesen Enttäuschungen die sitt-
liche Entmuthigung hervorgehen müsste.
So entmuthigend eine Wahrheit auch
scheinen mag, so ändert sie doch den
Muth Derer, die sie aufzunehmen wissen.
Auf alle Fälle ist eine entmuthigende
Wahrheit schon dadurch, dass sie eine
Wahrheit ist, stets mehr wert, als die
schönste Lüge, die ermuthigt. Aber
es gibt keine entmuthigende Wahrheit;
es gibt im Gegentheil manchen Muth,
der nicht wahrhaftig ist. Was die
Schwachen erschüttert, das befestigt die
Starken. »Ich denke an den Tag unserer
Liebe,« schrieb ein Weib, »wo wir durch
ein grosses Fenster auf das Meer sahen
und am Rande des Horizontes eine grosse
Menge weisser Segelboote erblickten, die
alle folgsam näher kamen, um in dem
Hafen, der zu unseren Füssen lag, zu
landen. Mir ist dieser Tag noch gegen-
wärtig, als wäre es heute gewesen. Ent-
sinnst Du Dich noch, dass ein einziges

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 347, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0347.html)