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Ich bin der Führer. Wohl dem, der
mir folgen kann. Ich weise ihm das Un-
weisliche. Du sollst ihn sehen, den
Nadir.
Steige mit mir auf den Thurm der
Schiefe.
Nur die schiefen Thürme haben den
geraden, den lotrechten, den sich ver-
senkenden Blick, der den Boden trifft,
dort, wo die schaffende Richtungslinie
nach dem Centrum das breite, platte
Niveau schneidet. Steige doch auf den
geraden Thurm und schau hinab, und
wenn Du Deine schielenden Augen noch
so sehr verdrehst, was siehst Du? Mauer-
ränder, Schutzdächer, Strebepfeiler, Dach-
rinnen! Aber siehst Du den Boden unter
Dir, den Nadir, den Gegenpol des Zeniths,
die Mitte der Individualwelt Deines Raum-
Ichs? Nein, Du siehst ihn nicht. Dort, wo
Du den Boden erblickst, da haben ihn Deine
Blicke schon angeschrägt, perspectivisch
verschoben, verschroben, flächenräuberisch
verkleint. Gerade unter Deinen Fuss musst
Du schauen, nicht nur bis auf den
untersten Westenknopf, wie der indische
Säulenheilige, sondern mitten hindurch,
durch den Knopf, durch die Stiefel, durch
die Säule, in den Niveaupunkt.
Das vermagst Du nur auf dem schiefen
Thurm. Da liegt das Unsehbare frei. Da
weist sich Dir das fussohlenverdeckte Ab-
stractum des Lebenslotes, die aufschiessende
Schwerlinie, wo sie das Flache durch-
locht, auftreibt, zum Körper erhöht. Denn
was ist flacher als das Rund der Erde,
dessen Abwälzung der Tag heisst? Und
was ist schärfer als die Kraftrichtung, die
sie aufhebt? In das schlottrige Überall
von Raum und Zeit jauchzt sie hinein
ein unsterbliches Hier! Ich! Das da!
Etwas! Gerade ich!
Widersprich nicht! Greulich ist mir
das Grübeln der Grünen! Der Boden
wäre Dir näher ohne den Thurm? Hin-
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knien, hinlegen könntest Du Dich, den
Boden in die deutliche Sehweite von fünf-
undzwanzig Centimetern Deiner normalen
Augen bringen? Bemitleidenswertes Opfer
der blödsinnigen, gedankenmessenden,
hirnschänderischen Physiologie, Du dauerst
mich. Zu sehen glaubst Du, wo Du nur
riechen kannst? Aber die Menschheit riecht
irre, drum soll sie sehen. Komm’ her
und höre die Geschichte von der
Acanthia.
Siehst Du den Wanderer, wie er keucht
und flucht? Jetzt watet er durch den gelben
Sand, da kommt ein Stück sumpfige,
moorige Wiese, grün-schwärzlich patscht
er dahin, nun den grauen, holprigen Fels-
grat hinan über den blendenden schlüpf-
rigen Schnee — ja er flucht und keucht
durch alle Farben; denn er ist kein steig-
froher, stadtentsprungener Alpinist, er ist
ein armer Hungriger, der nach Nahrung
sucht. Und warum muss er hier wandern?
Weil es die ursprüngliche Weltthatsache
so will, weil sein Brotherr reinmachen
lässt und kein andrer Weg zum Entrinnen
blieb, nachdem er einmal auf dieses Ölbild
gerathen war.
Denn der Wanderer ist eine Wanze,
eine richtige Acanthia lectularia aus der
Gruppe Geocores der Ordnung Rhynchota,
und die Gegend, die sie durchwandert,
sind die Wirrsale von halbtrockener Öl-
farbe und Firniss auf einem grossen Bilde.
Und die kleine, arme Acanthia hat ganz
recht, zu keuchen und zu fluchen, dass
sie durch diese klebrige Wüste ziehen
muss.
Ermüdet legt sie ihren Schnabel in
die eigens dazu angebrachte Rinne und
seufzt nachdenklich: Warum muss dieses
schwierige, schmierige Gelände sein?
Warum ist die Welt nicht eine grosse
Bettstelle?
Und das, Du grünschnabelkerfiger
Thor, wird Deine Wanzen-Perspective
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