Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 322

Schiefe Gedanken (Lasswitz, Kurd)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 322

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LASSWITZ: SCHIEFE GEDANKEN.

sein, wenn Du meinst, Du könntest den
Nadir in der Nähe suchen. Auf meinem
schiefen Thurme aber siehst Du die
Landschaft, über welche die Acanthia
kriecht, wie sie der Jüngling im Sammt-
barett sieht, der freudig davor steht. Dem
Thiere zum Leide hat er diese Farben-
wüste geschaffen, ihm aber scheint sie
eine schöne Frau mit ihrem Kindlein auf
dem Arme. Das ist sein heiligstes Her-
zensgut. Und Tausende und Abertausende
fanden vor dem Bilde die selige, gottes-
frohe Lösung ihres Leids, seit Jahr-
hunderten, auf Jahrhunderte.

Nun meinst Du wohl wieder, Du
naserother Schwärmer, die Acanthia sei
lächerlich? Sie hätte kein Recht zu
schimpfen? Nun erst gerade! Komm’ nur
auf den Thurm der Schiefe, wo die
schiefen Gedanken, zu rechten, geraden,
zutreffenden Apollopfeilen geschärft, ohne
parabolische Abweichung nach dem Ziel-
punkt geschossen werden können, weil es
der Schwerpunkt ist. Hatte die Acanthia
eine Ahnung von Rafael? Und hast Du
vielleicht eine Ahnung, wie die Mensch-
heit, Deine ganze Kunst, Dein Wissen,
Dein Glauben sich von oben ansieht? Ob
nicht die Erde nur eine Bettwanze des
Milchstrassenriesen ist, die ihn sticht,
beisst, anstinkt und ärgert? Jede gewal-
tige Entdeckung der Menschheit eine An-
zapfung, jeder Sieg der Schönheit ein
Schmutzfleck, jede Grossthat des Edel-
muths eine Schädigung, jede Lobpreisung
eine Schmähung des Übergeistes, dessen
Weltzweck vermuthlich ebenso nach einer
ganz anderen Richtung liegt, wie der Kunst-
zweck vom Wanzenzweck?

Also wohin sind wir schief gewickelt?
— Denke an

Die Uhr.

Die schiefen Gedanken sind die wahren,
wie die schiefen Thürme die geraden Wege
sind. Was wäre Galilei ohne den schiefen
Thurm, was wären seine Fallgesetze?
Unfälle! Wo wären seine Pendelgesetze,
hätten die Ampeln im Dom von Pisa
nicht schief gehangen?

Stelle das Perpendikel der Wanduhr
gerade, und sie bleibt stehen. »Ich bin
die Seele,« sagte das Perpendikel zum
Gewicht, »ich bin das belebende, das

regulierende Princip. Bleibe ich stehen,
so kann sich kein Zeiger mehr drehen,
Du magst ziehen, soviel Du willst.«

»Nicht doch,« sagte das Gewicht, »ich,
der Körper, bin das alleinige Agens. Ich
bin die Stoffkraft, der Kraftstoff, die Energie.
Durch mich allein kannst Du wackeln und
fackeln; höre ich auf, nach unten zu ziehen,
so kannst Du kein Rädchen mehr ver-
schieben.«

»Gar nichts seit Ihr,« sagte der Uhr-
macher und nahm die Uhr auseinander,
um sie zu ölen. »Das System ist’s, die
Einheit des Gesetzes, die gegenseitige Be-
stimmung des zu Bestimmenden, das Theil-
ganze des Ganztheils —«

Ziehe eine Grenze, nimm ein Stück,
und es ist elend und unvollkommen und
beschluchzbar, und es kräuselt sich in gelben
Flächen als Neidwurm des Nichtbegrenzten
— die Acanthia beisst den unsterblichen
Meister. Aber ziehe keine Grenze, und
Du hast den unendlichen Brei, den ab-
soluten Quatsch, das Nichts. Soll Dir’s
aber wohl sein, so thu

Beides.

Ja, Beides. Setze die Grenze, spring
ein paarmal hinüber und herüber und
hebe sie wieder auf. Setze sie ein Stückchen
hinaus und fahre so fort, bis Dir die
beiden Seiten, hüben und drüben, in eins
zusammenfliessen. Das nennt der Philosoph
Erkenntnis, der Brave nennt’s Gerechtig-
keit, der Fromme nennt’s Seelenfrieden, der
Mystiker das In-Eins-Schauen des All-Ichs.
Wohl dem, der in der Einzipfligkeit der
Weltwurst ohne Platzen der Haut das
Füllsel von aussen zu erblicken vermag!
Der Mensch ist der wolfsgesäugte Zwilling
Romulus-Remus. Als Romulus baut er die
Mauer seiner ewigen Stadt, als Remus
springt er hinüber und erschlägt sich dann
gegenseitig, um sie sofort höher zu bauen
und die Sache von vorn anzufangen. Der
höchste Beruf ist das Schmuggeln, das
Paschen, das Über-die-Grenze-Schleichen,
das Blockadebrechen, das Steinerücken.
Mehr als das Sein, der eigentliche Selbst-
zweck, ist das Realisieren des Nichtseins
durch die eigene Grenzverschiebung. Darum
war es so sehr viel besser in Deutschland,
als es noch viel mehr Grenzen gab. Damals
konnte sich das Allgemeine noch zum

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 322, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-14_n0322.html)