Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 323

Schiefe Gedanken (Lasswitz, Kurd)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 323

Text

LASSWITZ: SCHIEFE GEDANKEN.

Besondern begrenzen, beschmuggeln, be-
haupten, verstehen als Beides.

Der Zweck der Grenze ist ihre Über-
schreitung, aber immer von der anderen
Seite, als wo man sich befindet. Das ist
nur darum schwer, weil man erst einmal
hinübergekommen sein muss, und das kann
nicht jeder. Grenzen sind nämlich nichts
weiter als Siebe, aber umgekehrte, die
nur die grösseren Körner durchlassen, die
kleinen hübsch zusammenhalten, und die
haben’s auch nicht anders nöthig. Dies
ist die Methode der negativen Siebung.
Sie ist das wahre Triebmittel der Cultur.
Die grössten Siebe sind die Schule, die
Convention, die Kirche und das Schicksal.
Und wer nicht hindurchgesiebt wird, der
hat nicht die wahre Schiefe des Gedankens.

Das Sieb,

wohindurch Du zuerst musst, das ist das
Sieb der Schule. Mit der Zeit hat man
die Löcher immer kleiner gemacht, um
das Durchkommen zu erschweren. Aber
man versteht jetzt zu gut, das Sieb zu
schütteln. Man schüttelt mit einer Kraft
und Geschicklichkeit, dass jeder hindurch-
schlüpft, der Zeit genug aufwenden kann.

Der unendliche Aluminiumdraht der
Schulreform könnte in einen einzigen Gold-
klumpen zusammen gestampft werden: die
Lehrer sind zu gut!

Sie sind zu gescheidt, zu gebildet, zu
weitblickend, technisch zu trefflich geschult,
zu gewissenhaft, zu gut dirigiert. Unter
solchen Kräften muss auch der dümmste
Schüler, von Classe zu Classe gewälzt,
zuletzt den Purzelbaum der Reifeprüfung
erlernen und in dem grossen Berechtigungs-
sack aufgefangen werden. Ein Gymnasium
ist eine so vorzüglich eingerichtete Bildungs-
fabrik, dass in diesem tadellos arbeitenden
Mechanismus auch die zähesten Stroh-
köpfe zu weissem Staatsmehl vermahlen
werden, das nun in schöne, lockere, dextrin-
glänzende Beamtensemmeln verbacken zu
werden wartet. Und ist es einmal ge-
backen, so muss es auch gegessen werden.
Wohl dem Volke, das einen guten Magen
hat. Wie viele Generationen hindurch man’s
wohl vertragen kann?

So treulich ist das Schulsieb, dass es
alles Mittelgut und was darunter ist, unbe-
denklich verarbeitet; kommt es aber an

einen absonderlichen Gehirnbau, an einen
von denen, darin die Samenkörner der
grossen Zukunftsgedanken ruhen, und kann
es ihn nicht klein kriegen, so legt es ihn
vorsichtig zurück mit dem Consilium abeundi
— Du wärest zu schade, um gemahlen
zu werden. Und wem dies gelungen, der
darf seinen eigenen Weg suchen.

Das Sieb der Convention hat keine
Löcher, es lässt niemand hindurch. Hier
heisst es, mitwackeln oder hinausspringen.
Und wer hinausspringt, der ist todt. Es gibt
nur eine Strafe der Gesellschaft: die Todes-
strafe. Jeder richtet über den anderen,
und eine Stimme genügt. Es genügt die
Meinung, dass einer meinen könnte. Doch
es gibt mildernde Umstände. Verstehst
Du selbst Deine Stimme zu gebrauchen,
so erleidest Du zwar auch die Todesstrafe,
aber sie wird Dir nicht verkündet. Philister
über Dir, Simson! Spring heraus nnd stirb!

Du meinst nun, ich werde Dir das
Sieb der Kirche und das Sieb des Schick-
sals entwickeln? O Du organisches Lineal,
Du geradliniges Irrlicht! Eher will ich im
Demantduft der Freiheit nach den Finger-
übungen eines clavierspielenden Backfisches
tanzen, ehe Du mir eine einzige Consequenz
abnöthigen sollst!

Nicht umsonst ist der Reisbreiwall der
Vorurtheile um das Schlaraffenland des
Geistes gezogen, sonst könnte jeder Narr
sich die Tauben des Weltgeheimnisses
gebraten ins Maul fliegen lassen. Nur
wer sich durchzuessen vermag, ohne sich
den Magen an der Alltagskost zu ver-
derben, nur wer noch etwas verträgt, wenn
er satt ist vom Leben bis zum Platzen,
dem ist gewährt, von den Leckerbissen
der Erkenntnis die braunen Flüstertöne
mit bebenden Fingern abzutasten. Kannst
Du das? Hast Du je einmal den Wand-
kalender eines einzigen Jahres verschlun-
gen? Nun sieh, und mir liegen Jahr-
tausende im Magen und trotzdem sehne
ich mich nach dem Mittagessen. In jedem
Weintröpfchen schlürf ich die Energie
des Weltalls und Welten sprühen zurück
aus jeder Rindenzelle meines Gehirns —
das ist Kopernikus, das ist Kant, das ist
Goethe — das bin Ich. Mehr brauche ich
nicht zu sagen. Aber ich will. Ich bin

Der frierende Funke.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 323, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-14_n0323.html)