Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 320

Großstädte Carltheater: »Nora« (Heidenstam, Verner von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 320

Text

THEATER.

die Mitwelt gegenüber all denen, die nicht
stehen bleiben, sondern weitergehen wollen,
stets unrecht hat. Lernet in Demuth
verstehen, dass alle unsere Vorstellungen
von Natur und Unnatur, von Volksthüm-
lichkeit und Unvolksthümlichkeit, von
Civilisation und Barbarei relativ sind und
eine beständig fortgesetzte Verschiebung
erfordern — — —

Wenn Ihr dann in den vortreff-
lichen Schulen der Städte Euer Ränzel
mit Erfahrungen aller Art gefüllt, ist
es vielleicht an der Zeit, das Herz
sprechen zu lassen. Da werdet Ihr dann
vernehmen, dass die Heimat Euch doch
das Theuerste ist. So wunderlich zu-
sammengesetzt ist eines Menschen Herz.
Dann möget Ihr hierher zurückkommen,
und wenn ich noch am Leben bin,
wollen wir es köstlich zusammen haben.
Nochmals wie muntere Kinder wollen wir
Äpfel und Eicheln in unsere Körbe pflücken

und hinabtragen zu unseren possierlichen
Freundchen im Schweinestall. Und wir
wollen weit umherstreifen in Feld und
Wald und Pflanze und Thier lieb ge-
winnen und ihre Sprache verstehen lernen.
Und doch wollen wir klug genug sein,
all diesem keinen vermessenen Wert bei-
zulegen. Jeden Morgen soll das Schau-
spiel vor unseren Fenstern uns zu einem
neuen Feste werden, und wir wollen die
Bedeutung des Wortes »Heim« erfassen
— denn ein Heim gibt es nur auf dem
Lande

Seid darum von Herzen dankbar, wenn
ihr zu den wenigen Glücklichen gehört, die
ein solches Heim besitzen, in welchem sie
sich versammeln können. Erst die Erin-
nerungen sind es, die dem Gesange des
herbstlichen Kaminfeuers jenes Säuseln
verleihen, welches einzufangen bloss den
alten Liedern und schottischen Balladen
geglückt ist.


THEATER.

Carltheater. Im Vorjahre gastierte
an diesem Theater ein Ibsen-Ensemble,
welches im grossen und ganzen recht
verständige schauspielerische Leistungen
bot; selten zeigten sich Fehler in der
Auffassung, aber die Darstellung entbehrte
des künstlerischen Glanzes. Dem jetzigen
Gaste, Fräulein Hönigswald aus Graz,
mangelt nun ebenfalls die künstlerische
Individualität, zugleich aber auch das Ver-
ständnis für seelische Conflicte. Ihre »Nora«
wurde von Act zu Act unvermittelter.
Eine in jeder Beziehung so mittelmässige
Frau, als welche sich Fräulein Hönigs-
wald präsentiert, würde nie in Norabahnen

wandeln; vielmehr hätte selbst ein Helmer
einer solchen Spiessbürgerin gegenüber
am Schlusse der Stückes die Flucht er-
griffen. Um Ibsen spielen zu können, be-
darf es mehr als landläufiger Qualitäten.
Ein Darsteller, auf den das Leben nicht
so eingewirkt hat, dass er ganz von selbst
eine — man könnte sagen — unge-
schriebene Ibsenfigur geworden, wird nie
und nimmer in den Geist dieses Dichters ein-
zudringen vermögen. Fräulein Hönigswald
hat ein inactives Inneres, daher auch ihre
inhaltslose Stimme, die nichts auszudrücken
versteht, weil sie nichts auszudrücken hat.



Herausgeber: Constantin Christomanos und Felix Rappaport. — Verantwortlicher Redacteur:
Constantin Christomanos.
K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortlich A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 320, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0320.html)