Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 319

Großstädte (Heidenstam, Verner von)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 319

Text

HEIDENSTAM: GROSS-STÄDTE.

und gedeihen — und haben sich am
nächsten Morgen heiterer Miene vom
»Herzen der Natur« losgerissen und ein
Billet nach Paris oder München gelöst.

Nachträglich sind all diese Colonien
in die Städte übersiedelt. Bei einem Rück-
blicke finden wir, dass zwar fast alle
schöpferischen Talente Vorliebe für das
Landleben hatten, dass sie im Grunde
genommen jedoch von ganz anderer Seite
her das Brennholz für ihre Flamme sammel-
ten. Einige haben, wie ein Wagner, ein
Byron, ein Musset, inmitten einer Stadt,
wo kaum ein Baum zu erblicken war, in
venetianischen Palästen gewohnt. Andere,
wie die Männer der Renaissance oder wie
ein Sergel und Thorwaldsen, haben in
Roms Kirchen und Museen die Gesund-
heit ihrer Seele gewonnen. Etliche haben,
gleich Ibsen, Vergnügen daran ge-
funden, jeden Abend eine Stunde philoso-
phierend im Gesumme trinkender und
lärmender Stadtmenschen zu sitzen. Manch
einer hat sich auch, wie Watteau, nur dann
am Feuer der Phantasie zu wärmen ver-
mocht, wenn er das Rauschen höfischer
Seide vernahm. Ja selbst solche gibt es,
die erst, wenn das dumpfe Gerolle von
den Boulevards durchs Fenster dringt, die
rechte Arbeitslust in sich fühlen. Ein
Shakespeare lebte in Saus und Braus
inmitten einer grossen rauchigen Welt-
stadt. In Stratford wäre er ein Kind,
ein Alltagsmensch geblieben.

Wir sehen also, es ist Verhältnis-
mässig wenig, was »am Herzen der Natur«
gezeugt wird. Darum, meine lieben Knaben,
lernet die Städte ehren! Zuckt nicht
die Achseln über die städtischen Treib-
hausfrüchte, denn diese Treibhausfrüchte
sind allezeit das Beste gewesen, was
menschliche Cultur erzeugt und bewahrt
hat. Legt die bäuerischen anspruchsvollen
Reden ab, dass die Natur einer von den
Steinen der Weisen sei, den man nur unter
einem Dreschboden finden könne. Die
Natur, sie umgibt Euch, wo immer Men-
schen athmen und denken, und ihre Luft ist
nicht reiner in der Bauernstube als in den
Ministersalons. Lasset nicht die Einfalt Euch
glauben machen, dass die Bauersfrau mit
ihrem Eisenpanzer enger Vorurtheile, ihren
veralteten, aus den Städten ausgewanderten
Gebräuchen und Trachten und ihrer ge-

sundheitswidrigen Speisenzubereitung etwas
Natürlicheres, etwas Freieres und Gesünderes
sei, als die belesene alte Gräfin bei ihrer
Theetasse. Die Natur, sie besteht aus
allem, was da ist. Versailles ist geradeso-
gut Natur, wie ein Elsternest, und die
Feuerwehrleute, die unsere Städte durch-
eilen, sind ebenso natürlich, wie die Blut-
kügelchen, die eine verletzte Stelle unseres
Körpers umkreisen.

Weil wir auf dem Lande geboren sind,
sollen wir nicht behaupten, dass die Natur
vorzugsweise dort ihre wichtigsten Ge-
heimnisse offenbart; denn nirgends hat
sie so freimüthige Bekenntnisse gemacht,
als gegenüber den denkenden, forschenden
Herren in den Städten; ja die Verehrung
der Natur und des Landlebens selbst ist
ja seit Jahrtausenden ein Stadtkind. Auch
wird uns bald auffallen, dass die radicalsten
Rousseauisten in Städten wohnen, wo sie
städtische Gewohnheiten pflegen und
häufig grossen Wert auf eine Kartenpartie
nach Tische legen. Kommen sie aufs Land,
so verkühlen sie sich und halten alle Kühe
für verkleidete Stiere. Das sage ich Euch
nochmals, meine lieben Knaben: lernet
die Städte ehren und gebet dem Kaiser,
was des Kaisers ist. Geht hinaus in die
Welt und besuchet vor allem andern die
vielclassigen und nutzbringenden Lehr-
anstalten, die man Städte nennt! Lasst
der Poesie des Menschenstromes und der
tausend flackernden Lichter Gerechtigkeit
widerfahren. Welch grobe Saiten muss
nicht der an der Lyra seiner Phantasie
befestigt haben, der erst des Donners
eines Imatrafalles oder der todten Schnee-
gebirgsmasse bedarf, um diese Saiten
klingen zu machen! Lernet in den Städten
Euere menschliche Aufgabe, in das Leben
Euerer Zeit einzugreifen, anstatt in den
Scheunen zu sammeln oder Sonnenunter-
gänge zu betrachten. Seid Ihr einmal
Zeuge eines einfältigen Tischgespräches,
so folgert daraus nicht, dass Ihr bei einem
Jagdfrühstück im Walde tiefsinnigere Worte
gehört hättet. Bekennet vielmehr, dass
Euer Verlangen nach einem Imbiss im
Walde daher rührt, weil Ihr erschöpft
seid und den Lärm menschlicher Betrieb-
samkeit nicht mehr zu hören vermöget.

Doch vergesst nicht über dem richtig-
stellenden Rückschlag aus den Städten, dass

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 319, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0319.html)