Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 324

Schiefe Gedanken (Lasswitz, Kurd)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 324

Text

LASSWITZ: SCHIEFE GEDANKEN.

Keiner trete auf die Schiefe meines
Thurmes, der nicht der Physik Meister
ist! Lass eine Platinschale glühen und
tröpfle Wasser hinein — es verzischt
nicht; es tanzt und bleibt kühl, es zehrt
sich Kälte vom eigenen Leibe, frostleidend
in der Hitze. Daher heisst dies der
Leidenfrost’sche Versuch. Nimm flüssige
Kohlensäure und Du wirst das Wasser
im Feuer zum Frieren bringen. Dieses
frierende Wasser bin ich. Aber nicht das
Wasser, sondern der Funke, der frierende
Funke, der sphäro-ideale Zustand. Tanzend
verzehrt sich mein frierendes Herz in der
glühenden Platinschale meiner Leiden-
schaft. Denn dies ist die Tiefe der Schiefe:
Verbrennen ist leicht in der Glut, aber
frieren, frösteln, schaudern, klappern —
Eisbeine — das ist Kunst! Das ist das
ewige Grenzesetzen im Gefühl, die unab-
lässige Vernichtung des Unvernichtbaren,
der Ekel des Ich, der Blick auf den Nadir,
das ist die unermüdliche, grosse

Weltsäge.

Säge an der Wurzel der grossen Welt-
esche Yggdrasil, es nützt nichts. Das
Wachsen in die Tiefe hört nicht auf,
weil es die Sehnsucht ist. Die Sehnsucht
ist die ewige Verneinung des Vernichtet-
seins; aus ihr wächst der Baum der
Menschheit, der Cultur heisst, in die
beiden grossen Äste, die Notwendigkeit
und die Freiheit. Am Aste der Noth-
wendigkeit blühen die weissen, kühlen
Lilien der Wissenschaft, und am Aste der
Freiheit duften die rothen Rosen der
Kunst. Und ihre Früchte fallen herab und
immer neue Blüten sprossen hervor und
immer höher wächst der Baum. Und je
höher er aufschiesst, um so wuchtiger
fallen die Früchte denen auf den Kopf,
die darunter liegen und schlafen wollen.
Sie werfen mit Steinen nach den Blüten,
obwohl sie es nicht nöthig haben. Denn
es ist dafür gesorgt, dass die Äste nicht
in den Himmel wachsen. Gelockt vom
Glanze der Lilien sitzen viele Leute auf
dem Aste der Nothwendigkeit und rühmen

es laut: der Ast gehört zu gar keinem
Baume und er hat keine Wurzel. Die
Lilien blühen nur, wenn wir sie sehen
und soweit wir sie sehen. Es gibt keine
Gesetze, es gibt nur Regeln!

Und auf dem Aste der Freiheit sitzen
viele Leute, berauscht vom Dufte der
Rosen und schreien: Das sind keine
Rosen, das sind die nothwendigen Ab-
stammungsproducte unserer Erdenwurzel,
und wir müssen sie nehmen, wie sie
wachsen. Es gibt keine Regeln, es gibt
nur Gesetze!

Wenn die Positivisten Forscher sind,
so rufen sie: es gibt keine innere Noth-
wendigkeit, sondern nur Empirie; wenn
sie Künstler sind, so rufen sie, es gibt
keine Freiheit, sondern nur Empirie. Und
so sägen sie beide den Ast ab, worauf
sie sitzen.

Komm’ hervor, den ich führte, komm’
hervor unter dem Baume, dass Du sicher
stehest auf dem Thurm der Schiefe, wenn
die Äste herunterkrachen.

Dann wird es ein grosses Jammern
geben und eine allgemeine Zerquetschung,
und der grosse Fenriswolf der Unmensch-
lichkeit wird los sein.

Hüte Dich, das Denken zu befördern;
denn die Menschen denken zu gerade, und
das bekommt ihnen schlecht.

Hüte Dich, ihr Fühlen zu verstärken;
denn sie fühlen zu schief, und das be-
kommt ihnen sehr schlecht.

Denn sie meinen immer, das eine
müsste sein wie das andere, und doch
kann alles nur darum sein, weil die beiden
auseinandergehen in Ewigkeit.

Leben und Sehnsucht ist nur, wo
Denken und Fühlen miteinander ringen
— verticale Einheit und horizontale Viel-
heit drängen sich zur wahren Schiefe der
Persönlichkeit. Aber nicht hin und her,
wie die reissende Weltsäge, sondern
achsenumwandernd wie die Weltschraube,
die hinaufsteigt.

Sei gepriesen, der Du den Nadir
schautest vom Thurm der Schiefe!


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 324, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-14_n0324.html)