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Der indische Geist. Durch unsere
sturmbewegte Zeit gehen zwei grosse
Strömungen: eine optimistische und eine
pessimistische. Sie lassen den modernen
Europäer nicht zur Ruhe kommen. Schopen-
hauer und »die Moderne«, der Mann
und das in seiner Schwäche so zähe Weib,
die Verneinung und die Verkörperung
des Willens zum Leben stehen sich als
Feinde gegenüber. Mit List und Gewalt
kämpft die Moderne den Verzweiflungs-
kampf gegen die ernsten erhabenen Lehren,
dass der Mensch auf Erden nur ein armer
Pilger ist, nicht zum Geniessen geboren,
sondern zum Leiden. Es ist der alte Klang
und Sang aus dem fernen Osten von den
Fluren des heiligen Ganges und des himmel-
stürmenden Himawat. Est ist die Lehre
von der Verneinung irdischer Lust und
vom Streben nach dem Brahm. In Gott
allein ist Seligkeit, in Gott allein Wonne.
Alles Irdische ist nur Maya, der trügerische
Schleier, der dem Einzig-Realen, dem
Brahm, übergeworfen ist und es so den
Augen der Sterblichen verbirgt.
»Om. Tat Savitur varenyam bhargo
devasya dhimahi dhiyo yo nah pracodayât.«
»Lasst uns nachdenken über das Licht
des Erleuchters, nach dem wir uns sehnen!«
So tönt jeden Tag die heilige Hymne
»Gayatri« dem zweifach geborenen Arier ins
Ohr. Auch uns tönt sie stärker als vor hundert
Jahren, da noch ein lebensfroher, über-
schäumender Optimismus die Menschen
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beseelte und sie hoffnungsfreudig in die
Zukunft sehen liess.
Auch die alten Arier, die als siegreiche
Eroberer in Indien eingedrungen waren,
ergaben sich anfangs dem Frohsinn. Ihre
Barden besangen die Heldenthaten der
Götter und Menschen und das Glück der
Liebe. Aber die Zeit der Veden und des
Mahabharatha machten der Vedânta und
dem Buddhismus Platz. Ein grübelnder
Geist, düstere Schwermuth lagerte sich über
Aryavarta. Die Reinheit der Kasten liess
sich schwer aufrecht erhalten, trotz all
der vielen strengen Gesetze, und arischer
Einfluss sank allmählich vor dem Einfluss
der Urrasse. Die Moderne hatte gesiegt.
Die Arier sahen »die Töchter der Menschen,
dass sie schön waren« — und das Weib
triumphierte wie immer. Die ganze Ge-
schichte der Völker ist ja im Grunde der-
selbe Kampf. Eine Tochter war im alten
Indien nur ein Object des Mitleids. Aber
die Bemitleidete rächte sich. So auch
bei uns.
Wir sind in das »Kali-Alter« eingetreten,
von dem die Vishnu Purana sagt: Am
Ende der Zeiten wird ein Zeitalter kommen,
das sehr schlecht sein wird. Die Beob-
achtung der Kasten, der Ordnungen und
Einrichtungen wird nicht im Kali-Alter
vorherrschen. Der Sinn der Menschen wird
ganz in Anspruch genommen sein von
der Erwerbung von Reichthum, und Reich-
thum wird nur angewendet werden zur
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