Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 337

August Strindbergs neue Dramen Schrift und Kunst (Levertin, OscarHaberlandt, Mich.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 337

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HABERLANDT: SCHRIFT UND KUNST.

der eigenen Kraft, kein anderer Aus-
weg, als seine verzweifelte Sache vor
einen höheren Richterstuhl zu bringen
und demüthig die Gnade der höchsten
Instanz abzuwarten. Doch keine Analyse
kann hier den Dichtergeist ersetzen, und
während der Lectüre taucht unwillkürlich
die Scene auf. Mit so leidenschaftlicher
Meisterschaft ist dieses Stück in aller Ein-
fachheit seines Aufbaues ausgesponnen,
und mit so unvergleichlichem Glanze ist
es durchgeführt. Nur bei Ibsen findet man
solche Scenen und Repliken, nur bei Ibsen
geht das Messer der Seelenanalyse so scho-
nungslos sicher durch Fleisch und Blut, und
dazu spürt man in den besten Scenen einen
Hauch von Strindbergs, wie es scheint, unzer-
störbarer lyrischer Subjectivität. Auch hier
ist seine Nemesislehre allzu dogmatisch und
greifbar angewandt, und der moralisierende
Zeigefinger des Verfassers befindet sich
unnöthig viel in Bewegung; aber Alles,
sowohl die mildere Auffassung des Ganzen,
als der Vollreife Wirklichkeits-Charakter der
Darstellung — der pariserische Ton ist vor-
trefflich beibehalten — deutet auf wieder-
gewonnene Gesundheit. Ist vielleicht die
Krise des Inferno zu Ende, der letzte von
den vielen Entwicklungsprocessen des
Meisters, und soll nun der erste sonnen-
helle klare Tag des Nachsommers des
Weisen anbrechen mit seiner endlich ge-
wonnenen Harmonie? Etwas’ in dem
weichen Schluss des Stückes mit seinem

Lächeln durch Thränen spricht dafür; aber
über Strindberg ist es am besten, nichts
zu prophezeien, und vielleicht ist Strind-
berg am meisten Strindberg, wenn er uns
und alle unsere Hoffnungen äfft. Er hat
seinen eigenen Genius, der ihn auf Wegen
leitet, die uns nicht selten, zum mindesten
gesagt, dunkel und seltsam erscheinen,
aber einen Genius, reicher ausgerüstet und
wunderbarer, als der irgend eines anderen
schwedischen Schriftstellers seit Almquists
Zeiten. Und wie Almquist wird er wohl
bis zum Ende seiner Tage ein Räthsel für
sich selbst und Andere sein, ein ewig
Verwirrender, der mit der einen Hand die
Bewunderung verstreut, die er mit der
anderen geerntet, und die Besprechungen
seiner Werke geben in ihren Contrasten
das Bild seiner eigenen Persönlichkeit. Es
ist unmöglich, anders als stark gegen eine
Natur wie die seine zu reagieren, stark
sowohl im Tadel wie in der Bewunderung.
Rücksichtslosigkeit ist sein eigenes Wesen,
und den aufrichtigen Protest der Rück-
sichtslosigkeit schuldet man ihm, wenn
seine Werke Zeugnis von einer puerilen
Anschauung und einem unedlen Tempe-
rament ablegen, ebenso wie man ihm bis-
weilen die uneingeschränkteste Bewunde-
rung zollen und sich vor seiner einzig
dastehenden, ruhelos kämpfenden und
rastlos bildenden Genialität beugen muss.

Stockholm, Mai 1899.


SCHRIFT UND KUNST.
Von MICHAEL HABERLANDT (Wien).

Von dem warmen Golfstrom der
Moderne, welcher jetzt an unsern Ufern
vorbeizieht, um unser künstlerisches Klima
so wesentlich zu verändern, ist zusehends
auch unsere Schrift, die sich seit Jahr-
hunderten kaum gerührt hat in ihrer
steinernen Starrheit, zu einem merkwür-
digen, ich möchte fast sagen pflanzen-
haften Leben erweckt worden. In dem
lauen Kunsthauch, der jetzt überall weht,
lösen sich die starren Formen, die Schrift

wird beweglich und lebendig, sie streckt
und schlingt ihre Glieder wie ein leben-
diges Geschöpf, sie spriesst und knospet
— kurz: die neue Zeit hat wirklich auch
eine neue Schrift hervorgebracht.

Darin liegt wohl ein factischer Be-
weis für die fortdauernde Zugehörigkeit
der Schrift zur sonstigen Formenwelt der
Artefacte, die uns umgibt. Man wäre
fast versucht gewesen, zu glauben —
nach so ausgiebiger Schriftdressur des

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 337, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-14_n0337.html)