Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 338

Schrift und Kunst (Haberlandt, Mich.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 338

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HABERLANDT: SCHRIFT UND KUNST.

Geistes —, dass die Schrift als Mittler
und Träger schon jenen Abstractionen
unserer Cultur zuzurechnen war, die wie
die Wissenschaft, wie das Recht in for-
maler Hinsicht indifferent und daher un-
beweglich geworden sind — etwa wie
Plus- und Minuszeichen in der Mathe-
matik — wenigstens ausser der Mode
stehen. Die neuartige Schrift vom Tage,
die, wie zierliches Moos auf dem Ge-
mäuer, vegetativ-lebendig auf Papier und
Wand spriesst, beweist dagegen, dass in
unserer Cultur die sinnliche Seite noch
lange nicht so abgeschwächt ist, als es
die Rationalisten Wort haben wollen. Wir
zeigen doch erst recht wenig Talent zum
abstracten Bildungsmenschen, wenn uns
sogar noch bei Begriffszeichen und Klang-
symbolen der Sinn für den kleidsamen
Reiz der Erscheinung nicht vertrocknet
ist und bei der grossen Umwertung aller
künstlerischen Werte auch die Schrift-
form ins Fliessen und Spriessen kommt.

Nun ist aber die Schrift, soweit sie
ins wirkliche Leben mit seinem lärmen-
den Markt hineinsteigt, gar keine graue
Abstraction und kalter Begriffsträger, son-
dern vor allem und durch und durch ein Psy-
chologe. In der Verwicklung des modernen
Treibens, in der scharfen Concurrenz der
Zwecke hat sie hundert Gründe, ihre Reg-
samkeit zu entwickeln, mit neuen Zügen
zu locken, mit kleinen Räthseln zu necken
und damit die lesemüde Öffentlichkeit zu
ködern. Durch die Reclame im weitesten
Sinne ist doch die Schrift der Knabe
Wagenlenker der Öffentlichkeit geworden,
der Fremdenführer unserer Aufmerksam-
keit, der Ausrufer vor jeder Bude, ein
Marktschreier in allen Gassen. Es war
hohe Zeit, dass der geriebene Geschäfts-
mann sich dem künstlerischen Zuge der
Zeit hingab und vornehmer wurde. So
lernte die Schrift denn auch im modernen
Kunstsaal sich anständig bewegen; ja, in
letzter Zeit trägt sie sich völlig wie ein
Künstler, und es ist ihr schmeichelhaft,

mit einem solchen mitunter verwechselt
zu werden *

Indessen: Schrift ist niemals Kunst,
ist auch nicht einmal ihre Dienerin. Der
Kunstzweck und der Schriftzweck bestehen
völlig getrennt nebeneinander und sind
nur ausnahmsweise miteinander zu ver-
schmelzen: wie bei einem Denkmal. Jede
Aufschrift ist in der Regel vom ästheti-
schen Beschauen ausgeschaltet und wendet
sich an die Neugier, nicht an die ästheti-
sche Person. Wenn uns die Verlebendigung
der Schrift, die wir jetzt erleben, das
vegetative Spriessen, zu dem sie erweckt
ist, die Schrift dennoch für eine Zeitlang,
ehe sie wieder zu festen Formen oder
Formeln erstarrt — ästhetisch interessant
macht, so geschieht das, weil sie, durch
ihre Metamorphose uns entfremdet, gleich-
sam zunächst zum Schmuckband, zum
Ornament wird, in welchem wir — kind-
lich ironisch — mit Freude buchstabieren.
Die Form der Buchstaben, ihre Stellung
zu einander wird in der fremden Gestalt
uns wieder bewusst und merkwürdig; und
wir gemessen — wie eine leise Erinnerung
aus seliger Analphabetenzeit — den
ästhetischen Anblick der feindselig gegen
uns aufgestellten Schriftfront, wozu wir
gewöhnlich gar nicht gelangen, weil wir
als geübte Leser die Schrifterscheinung
als solche vollständig überspringen und
gleich auf den Schriftinhalt losgehen.

In diesem Sinne vermag die neue, kurz
als Secessionsschrift zu bezeichnende Schrift-
entwicklung allerdings unser ästhetisches
Interesse in Anspruch zu nehmen, und es
sind in der That Künstler, welche unsere
alten Schrifttypen gleichsam in ihren
Tiegel einschmolzen, um sie auf mannig-
fache Weise neu herauszutreiben und zier-
lich zu strecken und zu biegen. Wie im
modernen Kunstgeschmack überhaupt, hat
die Bravour eines exotischen Beispiels ersicht-
lich auf diese neue Schriftblüte eingewirkt.
Es sind »die Franzosen des Ostens,« die
japanischen Künstler, denen die Aufschriften

* Eine solche Verwechslung ist auch die Höflichkeit des Schriftchens von Rudolf von
Larisch
: »Über Zierschriften im Dienste der Kunst« (München, Josef Albert. 1899). Abgesehen
hievon haben wir es hier mit einer dankenswerten kleinen morphologischen Studie über die
moderne Schrift zu thun. Der Verfasser des »Schönheitsfehlers« der Weiber fährt fort, Schön-
heitsfehler zu entdecken, wenn er sie diesmal auch auf weit weniger pikantem Gebiete gesucht
hat. Man könnte sein nett ausgestattetes Büchlein recht wohl auch den »Schönheitsfehler der
Schrift« nennen Die Berufsschriftkünstler werden manches von dem Verfasser lernen
können, der vor allem gut sieht, was nicht jedermanns Sache ist.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 338, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-14_n0338.html)