Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 334

Pariser Brief August Strindbergs neue Dramen (Gourmont, Remy deLevertin, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 334

Text

LEVERTIN: STRINDBERGS NEUE DRAMEN.

Sarg zu giessen er sich angeschickt hat.
Ich weiss nicht, ob sie unterhaltend ge-
wesen wäre — jedenfalls weniger amüsant
als diejenige, die Becque über Sarcey ge-
sprochen hätte. Vielleicht hätte er sich
geärgert, vielleicht aus Sarcey eine Person
gemacht nach Art seiner »Corbeaux«,
einen Vampyr der Kritik? Es wäre ge-
schmacklos gewesen. Was mich anbetrifft,
so hat Sarcey mich zu sehr amüsiert, als dass
ich ihm wegen der kleinen Schelmereien
grollen könnte, mit denen er uns zur Zeit
des Théâtre d’Art empfangen. Wie soll man
sich über einen Philister ärgern, der nach

einer Vorstellung von »Les Aveugles«,
»Théodat« und »Le Concile féérique«
ganz gemüthlich sagte: »Toutes ces
charges d’atelier nous avaient menés jusqu’
à près d’une heure du matin ?«
Ich will lieber gestehen, dass die Sonntags-
Feuilletons Sarceys für mich auch die
drolligsten »Charges d’atelier« waren;
dass mir leid ist um sie, und dass
ich der Ansicht der ernsten Leute bin,
die da sagen: »Man wird Sarcey nicht
ersetzen können!«

Paris, Mai 1899.


AUGUST STRINDBERGS NEUE DRAMEN.*
Von OSCAR LEVERTIN (Stockholm).

Ob es wohl irgend einen jetzt leben-
den Schriftsteller gibt, der so unwider-
stehlich gleichzeitig anzieht und zurück-
stösst, wie August Strindberg? Jedes neue
Buch von ihm, das man in die Hand
bekommt, zwingt Einem dieselbe ver-
blüffte Bewunderung und dieselbe quälende
Unlust ab. Welches ausserordentliche
Genie und welcher trotz aller Subtilitäten
unverfälschte Naturmensch sind nicht
unter seiner Dichterkappe gepaart und
wie sehr auch die Verfeinerung seiner
Nerven unter Jahren überhitzter Cultur
bis zur Unglaublichkeit hinaufgetrieben
wurde, vermag sie doch nie ganz den
Mangel an natürlichem Adel zu verdecken,
der von Anfang an in seinem Wesen ge-
legen ist. Dieser Mann hat versucht, sich
alle Lehren und Kenntnisse der Civilisa-
tion anzueignen, er hat sich mit be-
wunderungswürdiger Leidenschaft in allen
Winden des geistigen Lebens getummelt; zu-
erst in den nördlichen Lüften der kritischen
Anschauung, dann in dem heissen Süd-
wind der Gefühlsmystik, und doch hat
er weit mehr von den Fieberkrankheiten
der Bildung und Seelencultur erworben als
von ihrer stählenden, veredelnden Kraft.
Und im ganzen unverändert besteht in

seinem Geist nach allen Hoheschuleritten
des Gedankens und allen Prüfungen und
Pilgerfahrten des Gefühls der nordische
Volkstypus in all seiner primitiven und
unharmonischen Gewaltsamkeit, mit dem
blauesten Unendlichkeitssehnen und den
simpelsten Instincten in ewig unver-
schmolzenem Gemenge, der Typus, der
Bilderstürmer und Wiedertäufer hervor-
bringt, Hexenpeiniger und Pietisten, aber
auch die grossen Reformatoren, die soci-
alen und religiösen Erneuerer. Und tief
aus diesem dunklen Volksschacht bricht
der siedende Quell Strindberg’scher In-
spiration hervor. So wie seinen geistigen
Brüdern unter den Romanen und Slaven,
Rousseau und Tolstoi, gibt dieser tiefe
poetische Naturgrund ihm eine prophe-
tische Rücksichtslosigkeit, die die Hälfte
seiner Stärke ist. Jeder Mensch, der durch
die Geburt etwas von dem hellen Gleich-
gewicht des Aristokraten hat und dem
die milde Humanität der Civilisation wirk-
lich in Fleisch und Blut übergegangen
ist, büsst während des Abschleifens einen
Theil jenes Rohstoffes ein, aus dem
mächtige und blutvolle Kunstwerke ge-
formt werden können. Das Lächeln der
Selbst-Ironie wohnt um den Mund des

* August Strindberg: Vid högre rätt (Vor höherem Richterstuhl). C. & E. Gernandt,
Stockholm.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 334, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-14_n0334.html)