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da ist, um das aussergewöhnliche und
nicht das gewöhnliche Leben darzustellen,
und einfach unnütz scheint es mir, sich ins
Theater zu begeben, um jene dummen
Gespräche anzuhören, die man alle
Tage hört.
Doch konnte man im Théâtre-Libre
wohl noch Anderes sehen als unreine
Albernheiten: es wurden dort — nach
Henry Becque — interessante Ver-
suche gemacht, das Leben in seiner ganzen
Grausamkeit darzustellen. Das war die
Schule der »Corbeaux«.
Herr Becque hatte von sich selbst die
höchste Meinung. Es gibt, sagte er, drei
Daten in der Geschichte des modernen
Theaters: den »Cid,« »Hernani,« die
»Raben«; denn diese drei Stücke haben
die drei grossen Perioden der dramatischen
Dichtkunst eingeleitet: die classische, die
romantische und die realistische. All dies
wäre richtig, wenn es wirklich eine re-
alistische Periode geben würde. Aber diese
Periode ist immer nur flüchtig angedeutet
gewesen; so mancherlei Einflüsse haben
sie in ihrer Entwicklung aufgehalten. Sie
bestand eigentlich nur in der krankhaften
Phantasie des Herrn Becque, der sich
solchermassen Entgelt für die Ungerech-
tigkeit des Schicksals und besonders für
die der Menschen zu verschaffen suchte.
Doch ist es schon sehr viel, dass man
eine solche Ansicht eines Schriftstellers
citieren kann, ohne ihn ganz lächerlich
zu machen. Wenn die »Raben« auch
nicht gerade ein historisches Datum be-
deuten, so sind sie doch immerhin ein
Werk von bedeutendem Werte, das bis
heute lebendig war und es noch weiterhin
sein kann. Das Theater Emile Augiers
ist todt auf immer; das Theater des
Dumas fils ist im Begriffe, zu sterben;
das Theater Becques ist nicht nur nicht
todt, sondern es scheint noch nicht ein-
mal die höchste Lebensstufe erreicht zu
haben, die es zu erreichen fähig ist. Jeden-
falls weisen die »Corbeaux« und »La
Parisienne« den heutzutage fast einzig
dastehenden Zug des zugleich Dramati-
schen und Literarischen auf. Diese Stücke,
die, wie man sagt, auf der Bühne sehr
gute Figur machen, bestehen ebenso gut
die Lectüre; man kann sie fast mit gleichem
Genusse lesen und dargestellt sehen.
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Dieser Genuss besteht, namentlich bei
den »Raben«, in dem Abscheu, den uns
das Leben einflösst, wie Becque es sieht
und sein sarkastischer, bitterer und grau-
samer Geist es wiedergibt. Denn was er
Realismus nennt, nennen die anderen
Pessimismus. Das Leben zeigen, wie es
ist, heisst — nach Becque — es hässlich
und böse zeigen. Das ist ihm gelungen,
vielleicht zu gut, denn nur schwer gefallen
so düstere Schilderungen einem stetig
feiger werdenden Publicum, das zurück-
weicht und heult, sobald man ihm eine
Wunde oder ein Gebreste zeigt. Aber
Becque, der den Ruhm suchte, kümmerte
sich weder um Berühmtheit noch um
Geld. Man hielt ihn für reich. Die
Menschen von heute können nur schwer
glauben, dass ein bekannter Schriftsteller
aus seinem Namen nicht Geld zu schlagen
weiss. Warum schrieb er nicht für Zeitungen?
Warum machte er nicht Stücke zu zweit?
Er hatte keine Zeit. Er war den ganzen
Tag damit beschäftigt, unter der Un-
gerechtigkeit zu leiden. Seine Feinde
wussten es und freuten sich darüber.
Wenn es nicht eine Schwachheit ist, zu
leiden, so ist es wohl eine Schwachheit,
sein Leiden einzugestehen; und Becque
that mehr als das — er schrie es hinaus
durch seine verbissene Haltung und seine An-
schwärzungen. Er pflegte die Feindschaft
mit einer Art ungesunder Leidenschaft:
wahrhaftig, er wurde sein eigener Henker.
Er war ein sehr unvollkommenes Genie,
vielmehr, was man ein originelles Talent
nennt, ein tiefes, aber begrenztes Talent.
Was Becque ausser seinen Stücken ge-
schrieben, ist oft sehr mittelmässig; sowie
er sich nicht überwachte, wurde er ge-
wöhnlich. Ich glaube, dass seine Unfrucht-
barkeit besonders in der Entmuthigung
ihren Grund hat; aber man entmuthigt nur
jene Köpfe, die keine grosse schöpferische
Thatkraft besitzen. Zweifelsohne war
Becque nicht an seinem Platze. Er wurde
nicht nach Verdienst geschätzt, er, der unbe-
streitbar der Meister des zeitgenössischen
Theaters war. Aber neue Werke hätten
besser als seine so reichlich gespendeten
Epigramme die Feinde gezwungen, Ge-
rechtigkeit ihm widerfahren zu lassen.
Man erwartete von Herrn Sarcey die
süss-säuerliche Grabrede, die über Becques
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