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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 332

Text

GOURMONT: PARISER BRIEF.

der ermüdete und angewiderte Schrift-
steller nicht mehr imstande ist, sich seines
Sieges zu freuen. Herr Sarcey, der so
grossartig das Gewöhnliche verkörpert,
bildet einen wunderbaren Beweis dafür,
wie unnütz bei einem Schriftsteller selbst
die Gaben sind, die eigentlich den Schrift-
steller ausmachen; er war aus Gründen
berühmt, die durchaus keinen Zusammen-
hang mit der Literatur haben: weil er
arbeitsam war, weil er gesunden Menschen-
verstand hatte, weil er instinctmässig jenen
hämischen Hass gegen das Neue hatte,
der aus den listigen Augen jedes fran-
zösischen Bürges grinst. Sein Ruhm be-
steht darin, durch vierzig Jahre hindurch
täglich geschrieben zu haben: Warum
wollt Ihr denn anders werden? Treibt es,
wie man’s gestern getrieben! Ahmt doch
einander nach! Scribe hat Erfolg gehabt,
daher hatte er Recht; schreibt also wie
Scribe! Da ist ein Stück, in dem sich der
Autor sehr bemüht hat, anders zu sein
als die andern; er wird dafür bestraft
werden: sein Stück wird nicht Casse
machen.

Die ganze dramatische Kritik Sarceys
drehte sich um den einen Punkt: Wird
das Stück Geld machen oder nicht? Er
irrte sich selten, denn alle Theaterliebhaber
lasen seine Feuilletons und giengen nicht
zu einem Stück hinein, von dem die
unfehlbare Kritik gesagt hatte: es wird nicht
Geld machen. Man muss auch anerkennen,
dass er von Natur aus wie das Publicum
dachte, fühlte und sprach. Der Philister,
der Sarcey las, glaubte sich selbst zu
lesen, so bar war die Kritik dieses ge-
wissenhaften Chronisten jedweden Ge-
dankens, Stils und all Dessen, was den
wackeren Leuten Frankreichs die Literatur
so sehr verhasst macht.

Keiner von all jenen Versuchen zur
Erneuerung der dramatischen Kunst, die
seit zwanzig Jahren in Frankreich statt-
gefunden, hat von Sarcey auch nur die
geringste Ermuthigung erfahren. Seine
Haltung Werken von Wert gegenüber
war manchmal abscheulich. Er spielte den
Dummen, Den, der nicht versteht, aber
so ungeschickt, dass sich die Welt, in
der man versteht, nur schwer über den
Spott täuschen liess, der keinen anderen
plausiblen Grund hatte, als die Starr-

köpfigkeit eines Bauern, der aus dem ge-
wohnten Geleise nicht heraus will. Es
lag viel bäuerische Verschmitztheit in der
grossmäuligen Aufschneiderei des plumpen
Sarcey.

In gewöhnlichen Zeiten, einem ge-
wöhnlichen Stück gegenüber, einem jener
Dramen oder Vaudevilles, deren einziger
Zweck die Einnahme ist, wurde Herr
Sarcey wieder ganz einfach und gerade.
Mit welcher Sorgfalt zergliederte er in
einem der ernstesten Blätter Europas die
gemeine Verwandlungsposse! Das, was
das Jahrmarktpublicum einst mit faulen
Äpfeln und Spottliedern begrüsst hätte,
prüfte und beurtheilte Herr Sarcey mit
einem Ernst, der an jenen der Ärzte in
Molières Lustspielen erinnerte. Es war eine
grausame Herabwürdigung des Kritiker-
amtes; viele Leute haben seither eine
unbegrenzte Verachtung für den Beruf
des Theaterstücke-Erzählers bewahrt, und
nur mit Mühe vermag sie jetzt das Talent
des Herrn Catulle Mendès mit dieser so
entehrten Gattung der Schriftstellerei
wieder auszusöhnen.

Aber dieses Entgegenkommen schmei-
chelte dem Publicum, das darin die Recht-
fertigung seines natürlichen Geschmackes
fand; daher stammt die unglaubliche Be-
deutung, die von der Menge der Theater-
liebhaber seinen Aussprüchen beigemessen
wurde. Er war gleichsam das Sprachrohr
der öffentlichen Meinung. Dies hatte zur
Folge, dass die Autoren und Theater-
directoren schliesslich in Sarcey, den Ver-
treter des Publicums, ein unbegrenztes
Vertrauen setzten. Und so regierte er
das Theater mit einer Biederkeit, die,
wenn auch verschmitzt, so doch nicht
minder ausschlaggebend war. Als er
Herrscher geworden, verlegte er jedwedem
Widerspruch den Weg.

Allerdings konnte er die Privattheater
nicht behindern — und unter anderen
blühte das Théâtre-Libre trotz seiner
Allmacht und machte ein kleines, aber
intelligentes Publicum mit einer ganzen
Reihe von Stücken bekannt, die, wie es
scheint, zum mindesten ebensoviel Daseins-
berechtigung hatten, wie die Vaudevilles
des Herrn Feydeau. Ich habe keine grosse
Sympathie für das realistische Theater;
ich glaube, dass das Theater gerade dazu

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 14, S. 332, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-14_n0332.html)