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wirklichen Culturmenschen, und wenn
auch die Stimmen der ursprünglichen
Passionen zuweilen ihren Hexensabbath
in seiner Seele halten, so misstraut er
doch dem Murren der lärmenden Stimmen.
Diese Eleganz der Schüchternheit und
Verschämtheit ist es, die viele der grossen
Poeten glücklicherweise nicht kennen,
denn sonst würde vieles ungedichtet sein,
das jetzt zu den Meisterwerken der Welt-
literatur gerechnet wird. Was August
Strindberg betrifft, so könnte man ihn
August I., den Bekenner nennen, denn
einen rücksichtsloseren Dichter kann man
kaum finden. Ich kann mir nicht helfen;
aber die Lectüre seiner Schriften erinnert
mich zuweilen an die Besuche, die man
als Kind in den Menagerien machte, wenn
die Thiere gefüttert werden sollten. In
Strindbergs Büchern schreien und brüllen
hinter ihren Gittern alle wilden Thiere
des Menschengeistes — und darunter
finden sich nicht nur der majestätische
Löwe und der berückende Tiger mit
seinem goldgesprenkelten Fell, sondern
auch die schmutzigen Affen.
Es ist freilich wahr, dass kaum irgend
ein Mensch mehr den etwas optimisti-
schen Glauben des vorigen Jahrhunderts
an die angeborene Güte des Menschen
hegt. Die Lehre der Theologie von der
Erbsünde und der natürlichen Verderbnis
der Welt scheint in weit näherer Ver-
bindung mit der modernen Anschauung zu
stehen. Aber auch Derjenige, welcher bloss
einen geringen Grad moralischer und ästhe-
tischer Vollkommenheit erreicht hat, liebt es
doch, die bösen Gedanken und die trüben
Anfechtungen im Zaum zu halten oder will
wenigstens seinen Kopf höher tragen als
seine Niederlage. August Strindberg hat
in den letzten Jahren in seiner Dichtung
die Ideen der Versündigung und die Ge-
danken der Reue mit einem Interesse
und Wohlbehagen cultiviert, ähnlich dem
des Bacteriologen, wenn er seine Bacillen
züchtet und durch bunten Farbenstaub von
einander trennt. Besonders ist es das Ver-
brechen und die Gewissensqual, die er mit
febriler Meisterschaft beobachtet und ge-
schildert hat. Was bei anderen zu stummer
Zerknirschung oder zu Streben nach
Besserung wird, das hat er zu einer see-
lischen Pathologie ausgebildet, in der er
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sich so sicher bewegt wie der jesuitische
Casuistiker in der spitzfindigen Classi-
ficierung von Sündenfällen. Seine zwei
neuen Stücke behandeln wieder denselben
Gegenstand. Man beugt sich unwillkürlich
vor ihrer ernsten Absicht und der meister-
lichen Darstellung in dem letzten, ohne
doch von einem dumpfen Widerwillen
loszukommen, einem Gefühl der Sehn-
sucht nach freiem Fluge und reinem
blauen Äther.
»Vor höherem Richterstuhl« besteht
aus zwei von einander unabhängigen, nur
durch einen gemeinsamen Gedankengang
verbundenen Stücken. Das erste, »Advent«,
gehört meiner Ansicht nach zu dem Ab-
stossendsten, was Strindberg je geschrieben.
Der Dichter nennt das Stück »ein
Mysterium«, und ein Mysterium ist es
auch in jeder Hinsicht, ob man nun an
die wunderliche Form denkt, die unleugbar
etwas von dem Schattenspiel-Charakter des
mittelalterlichen Dramas hat, oder an die
Menschenauffassung, welche auch in mittel-
alterlicher Weise zu Kategorien vereinfacht
ist, Engel und Teufel, oder ob man nun
den rein moralisierenden Zweck des Dramas
im Sinne hat. »Advent« erzählt, wie ein
in jedem Betracht elendes Menschenpaar,
eine Art Adam und Eva des Verbrechens,
der Mann und die Männin, nach fünf
langen Acten der Verhärtung endlich unten
in der innersten Hölle — von Strindberg
»Der Wartesaal« genannt und wie ein
Gefängnis geschildert — in einem Felsen-
thal, in dem Satan mit Prügeln nach und
nach die Verstockten zur Besserung antreibt,
um Verzeihung für ihre Missethaten flehen
und vor dem Morgenstern das Knie beugen.
Als Contrast zu diesen Verbrechern sind
ihre misshandelten Kindeskinder geschildert,
kleine Gottesengel, mit denen das Jesu-
kindlein spielt. Diese Kinder-Idyllen sind
ganz unecht und süsslich. Strindberg à la
Fra Angelico malend, das heisst das Para-
doxon über die Grenze des Erlaubten
treiben, und was immer sich der bekehrte
Loke zutraut, das Seraphische liegt sicher-
lich ausserhalb seiner Möglichkeiten. Umso
gewaltiger und stärker ist der düstere Theil
des Dramas — in der Poesie des Unheim-
lichen können wenige Dinge mit Strind-
bergs Bildern aus der Hölle der Bösen
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