Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 390

Wagner-Entweihung »Schicksale einer Seele«. Von Dohm (Kolb, AnnetteCeconi-Huch, Ricarda)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 390

Text

BÜCHER.

Vergleichen wir seine Unbefangenheit,
seine naive Muthigkeit, seinen Glauben an
die Menschheit mit dem düsteren Hoch-
muth Nietzsches, der vorübergehend
nur den Denker zu beglücken vermag,
wenn er seine Blitze durch Finsternisse
streifen lässt, die er nicht beleuchtet —
denen er verfiel! Ihm fehlte jene Liebe,
die allein dem Geiste Kraft verleiht, die
Dinge ans Licht zu ziehen. So verfehlte
er sein Ziel, das Wenigen so hoch ge-
steckt war; denn Nietzsche erscheint uns
oft wie der grösste Geistesaristokrat, der
je gelebt — so erhabene Züge und eine
so vornehme Unterscheidungsgabe sind
ihm zu eigen! Dabei ist nichts so unver-
meidlich, nichts so mitleiderregend und
nichts so gerecht als sein Ende. Ja, es
ist so logisch, dass wir staunen, wie ein
so hellsichtiger Geist den Abgrund nicht
geahnt, an dessen Rande er sich verhielt.
Er war eben, wie seine Erzeugnisse, hell-
sichtig — aber nicht klar. Nie verweilt
hier die Sonne, keine Aussichten und
kein Trost scheinen uns da je! Immer
leugnend zog es ihn hinab!

Harmonie im Mannigfachen und Be-
herrschung der Gegensätze sind stets die
Attribute, die Hauptbedingungen des wahren
Genies. Sinnlos fügt sich nichts auf Erden,
selbst der Wahnsinn nicht. Wo er aus-
brach, war stets eine Lücke, und Nietzsche
musste ihm so unfehlbar verfallen, als
Wagner ihm nicht verfallen konnte!
Aber Dies oder Jenes — lassen wir nicht
Alles unbenützt? Was half es, dass
Wagner uns neue Pfade gewiesen, da
wir sie so bald verliessen, um gewohnte
Bahnen zu betreten! Bleibt doch Trägheit
die Klippe, an der das Gute ewig scheitert.
Nur die Gewinnsucht bedarf des Spornes
nie. Sie schleppt die Meisterwerke, die ihr
zur Beute fallen, auf dem alten Lastwagen
hinter uns her — und im schönsten
Tempo geht es wieder abwärts.

Aber welches musikalische Gemüth
vollzöge heutzutage keinen wehmüthigen
Rückblick, wenn es so verheissungsvoller
Strömungen gedenkt und täglich sieht,
wie ihre Spuren sich verwischen und die
Wasser wieder so flach zusammenfliessen!

München, Juni 1899.


BÜCHER.

Schicksale einer Seele.* —

Dieses Buch übt eine ausserordentliche
Anziehungskraft aus; was mich betrifft,
so haben mir wenig moderne Romane so
gefallen, wie dieser. Die Heldin des Buches,
Marlene, hat eine grosse Bewunderung
für Bettina Brentano und zerfliesst als
Kind einmal in Thränen darüber, dass sie
nie, nie imstande sein würde, solche Briefe
zu schreiben wie jene. Und wirklich stehen
ihre ersten Liebesbriefe im schärfsten
Gegensatze zu denen der Bettina; sie
haben ein ganz hohles Pathos, einen über-
triebenen Schwung, eine leere, bedeutungs-
lose Bilderfülle, die, wie sie selbst urtheilt,
wirklich an Backfischliebesbriefe in Witz-
blättern gemahnt. Marlene wird seit der
Zeit reifer und geschmackvoller, aber ihr
Stil behält das Schwungvolle, in grossen
Zügen Hingeworfene bei; nervös, das

Unsagbare andeutend, Stimmung aus-
hauchend, aus der Tiefe strömend ist er
in geringerem Masse. Dieser Umstand
trägt aber sehr zur Wahrhaftigkeit des
Buches bei, das das Leben einer etwa um
das Jahr 1833 geborenen Frau darstellt
und von ihr selbst im Jahre 1866 ge-
schrieben zu sein vorgibt. Es stammt also
aus der Zeit, die, als ein Rückschlag gegen
die Romantik, die Zeit des Innenlebens,
vorzugsweise äusserlich war, einseitig
männlich, oberflächlich, ganz mit Thun
ausgefüllt, die Zeit, die ihren Höhepunkt im
deutsch-französischen Kriege erreichte und
ihren literarischen Ausdruck in den Ro-
manen von Hackländer, Spielhagen, Frey-
tag, Dahn und Ebers fand, und die jetzt in
einer neuen romantischen Welle untergeht.
Wie unfruchtbar sie auch für das Seelische
und Geistige gewesen sein mag, sie hat

* Schicksale einer Seele. Von Hedwig Dohm. S. Fischer, Verlag. Berlin 1899.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 390, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-16_n0390.html)