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anderer die Arznei nimmt, werde ich nicht
gesund; dadurch, dass ein anderer die
Freiheit erwirbt, werde ich nicht frei.
Wenn man die Symbolik der Jesus-
legende auf den Menschen (den Mikro-
kosmos) anwendet, so erkennt man in den
»Thieren«, welche die »Wiege« Jesus um-
stehen, die niederen Triebe des Menschen,
die in seinem thierischen Selbst (dem
»Stalle«) zu Hause sind. »Jesus« ist unser
eigenes, wahres, unvergängliches Selbst.
Der »Weg des Kreuzes«* ist der Weg
des Lebens, den jeder durchwandern muss.
Der Mensch ist »Jesus«, »Maria« und
»Pilatus« in einer Person. »Pilatus« als der
beschränkte Intellect vermag die Wahr-
heit nicht zu erkennen, selbst wenn sie
vor ihm steht. Die »Juden« stellen die
niederen Kräfte dar, die Jesum verhöhnen
und durch ihr Geschrei die Stimme der
Wahrheit übertäuben; die »Kriegsknechte«
sind die Leidenschaften, die den gefesselten
Gottmenschen geisseln; »Josef von Ari-
mathäa« ist die Hoffnung, das Vertrauen,
und hilft das Kreuz des Leides tragen.
Die drei »Nägel«, mit denen die Seele
an das sich immer drehende Rad des
Lebens (das »Kreuz«, im Indischen die
swastica) geschlagen ist, sind Denken,
Fühlen und Wollen, die den Menschen
an das Dasein fesseln. Die Auferstehung
kann erst stattfinden, nachdem der Stein
der Selbstsucht vom Grabe der Seele
hinweggerollt ist. Angelus Silesius sagt:
»Wenn Gott in Dir geboren, gestorben
und erstanden, so freue Dich, dass bald
die Himmelfahrt vorhanden«.
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Die heilige Schrift (Geheimlehre) ist,
sagt Meister Eckhart, wie ein Meer, das
umso tiefer ist, je weiter man hineingeht.
Dem einen reicht es bloss bis an die Knie,
dem anderen bis an die Schultern, der
dritte aber taucht ganz darin unter und
findet die kostbaren Schätze, die auf dem
Grunde sind. Die gegebenen Andeutungen
haben den tiefen Sinn der erwähnten
Symbole durchaus noch nicht erschöpft.
Auch wird durch (ausführliche) Commen-
tare, Deutungen und Auslegungen dem
Zwecke allegorischer Schriften nicht ent-
sprochen; denn der Zweck religiöser Sym-
bole ist, dass derjenige, welcher sie be-
trachtet, selber darüber nachdenken, sich
in die geistigen Geheimnisse, die sie ver-
bergen, vertiefen und in seinem eigenen
Innern den Schlüssel dazu finden soll.**
Wer aber den Schlüssel der geistigen
Erkenntnis in sich gefunden hat und wem
gezeigt wurde, wie das Schloss aufge-
schlossen wird, der vermag den geheimen
Gehalt der Bibel und den einheitlichen
inneren Sinn der mystischen Schriften
aller Zeiten und Völker zu erschliessen.
Er erkennt dieselben erhabenen Wahr-
heiten nicht nur in den ehrwürdigen Veden
der Indier, im chinesischen Tao-Teh-King
und dem Todtenbuche der Egypter, im
Zend-Avesta der Perser und in den goldenen
Lehren des Pythagoras, sondern auch in
Dantes »Göttlicher Komödie«, in Goethes
Werken, in Rückerts »Weisheit des
Brahmanen« und in Richard Wagners
Mysterienspielen.
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