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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 385

Text

MENKES: THEOKRIT.

das Land der Ebenen: da ist Raum für
grosse Träume und sinnende Schwer-
muth. Kleine Strohhütten, versunken in
hohem Gras und Farnkräutern, träge Zieh-
brunnen, ein wechselnder Himmel und
wechselndes Licht, kleine Seelenlieder des
Fatalismus Derer, die sonst schweigsam
und von einer wunderbaren Beharrlichkeit
sind, das kannst Du hier erschauen und
erlauschen. Und indem ich durch Wald
und Feld wandere, ist auch ein grosses
Wandern in meiner Seele.

Jetzt will der Sommer enden, die
Sichel tönt im grossen Schweigen und
der Landmann hält sinnend die reife
Frucht wie ein schweres Geheimnis —
und sie werden Wissende. Ich gehe durch
das ruhende, stille, verträumte Dorf: es
ist, wie wenn alles horchte. Es ist viel
Einsamkeit, aber keine Todtenstille: da
reden die Dinge, und die Seele wird erhört.
Vor einer Hütte sitzen Kinder im Grase
und singen ein altes Volkslied — und
wenn sie dann still sind, hört man das
Fallen schwerer Früchte. Mir begegnet
der alte, gute Priester. Er ist schweig-
sam, gegen seine sonstige Gewohnheit;
er reicht mir die Hand, und wie ange-
zogen von den grossen stillen Vorgängen
blicken wir beide ins Weite. Plötzlich
beginnt er zu sprechen: »Die dort, die
sind arm und hungrig, sagt man bei
Euch immer, aber wessen Korn immer
unter ihrer Sichel fällt, sie ernten immer.
Die sind stumpf und schweigsam? Aber
auch die Natur ist ein schweigender Tief-
sinn. Was Die jetzt thun, das haben ihre
Väter Jahrhunderte lang gethan und das
werden die späten Enkel auch wirken:
es ist derselbe Arm und derselbe Glaube,
der durch unendliche Strecken der Zeit
thätig ist. Wo werden unsere Kinder hin-
kommen?« Und wir standen vor einer
elenden Hütte, in welcher ein armes
krankes Weib lag; die horchte in ihrer
Verlassenheit, wie Leidende horchen
können. Aber nun begann aus einem
Versteck plötzlich eine Taube zu girren.
Und ein Schwärm Bienen flog auf und
summte gegen die trüben Fensterscheiben.
Und da wussten wir, dass auch hier Glück
wohne.

Und dann gieng ich durch ein kleines
Gehölz, da standen abgestorbene Eichen,

für die es kein Blühen mehr gab; wie
gedörrtes Gebein sahen ihre Stämme aus
mit ihren abgeschälten Rinden, aber eine
grosse, glühende Flut von Sonnenlicht
umstrahlte sie, dass sie aufzuflammen
schienen wie jene Dornbüsche des Moses.
Gross und in wogenden Linien lag die
Ebene vor mir, und es war eine grosse
Seligkeit in dieser Einsamkeit, die wie
das Schweigen selbst war, mehr als die
Freude, tiefer als die Trauer, eine Me-
lodie, für die es keine Noten und keine
Stimme gibt.

Da drangen Töne zu mir; sie waren
unsagbar arm und rauh. Ein armer blinder
Sänger sass vor der Heidehütte und sang,
während er eine Art Kurbel drehte, ein
primitives Musikinstrument, das nur dünne
monotone Begleittöne gab. Er sang das
Lied der Helden und der schönen Leiden,
vom Blute des Kosaken, das die Heide
färbt, vom weissen Rosse, dem der Reiter
entfallen, von der Liebe, die nicht sagen
darf, wie ihr ist, vom Hoffen und von
sterbender Sehnsucht, vom armen Waisen-
kinde, dem die todte Mutter das goldene
Haar strählt — und es war schier, als
hätte dieser blinde Sänger, der kein Heim
und keine Liebe kennt, ewig von Dorf
zu Dorf, von Einsamkeit zu Einsamkeit
wandernd, die ganze arme Scala unseres
Lebens auf seiner Walze.

Üppige, voll erblühte Frauen und junge
Mädchen von der Biegsamkeit und Schlank-
heit junger Birken umstanden ihn andäch-
tig, und des Sängers Lohn war gross und
schön: sie gaben ihm Brot, Thränen
und ein stilles glückliches Lachen, das
wie das geheime Rauschen von Quellen
klang. Die polnischen Dörfer kennen in
ihren unzerstörten Idyllen diese Sänger,
die ihnen alte Culturen herübergereicht.
Sie sind die heimlichen Könige im
Bettlerkleid. Es ist, als ob sie das Hemd
des Glücklichen anhätten; sie sind die
Sorglosigkeit und sie haben in sich die
Stille der Steppen. Ihr Lied ist leuchtender
Mondschein dem mühseligen Leben der
Landleute; mit ihrem Zauberstab berühren
sie das Leben und es wird zu einer
heiligen Legende, zu einem wundersamen
Gleichnis. Sie sind räthselhaft wie alle
Dichter. Ist es nicht, als ob diese das
Gespenst des Todes verscheuchen wollten?

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 385, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-16_n0385.html)