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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 386

Text

MENKES: THEOKRIT.

Ihre Welt, die über den Realitäten wie
eine Arche Noahs dahinschwebt, ist
bevölkert mit Lebewesen, die, mit einer
höheren Körperlichkeit ausgestattet, allen
Zeiten trotzen. Aber sie befruchten und
erlösen auch die reale Welt. Durch
Shakespeare schlagen Hamlet, Julia, Lear,
durch Goethe Faust, Gretchen und Werther
ihre wundersamen Augen auf — und
plötzlich sind sie auch in unserer Welt
da, die Menschheit bekommt das Bewusst-
sein dessen, was und wozu sie ist: In
diesen erhabenen Spiegeln erblicken sie die
Genossen jenes schönen Leidens, welches
das Leben ausmacht

Einen ganzen Sommer lebte ich in
bukolischen Freuden zwischen diesen
armen glücklichen Landleuten, von Volks-
liedern umtönt, in bukolischen Freuden,
in einer Welt, die die Welt des Theokrit
ist.

Als Theokrit auftrat, da waren die
grossen tragischen Träume des Dionysos aus-
geträumt. Und es war, als ob alle Musik
verstummt wäre, das Weinlaub war ent-
sunken den Stirnen der Silene, eine
andere Sonne war aufgegangen, die kühle
Wintersonne der Philosophie. Sokrates
durfte wieder das Theater besuchen, und
das grosse Lächeln des Siegers war auf
seinen Lippen. Die Promethiden hatten
sich ganz verblutet — der Bürger war
auferstanden und prätendierte auf den
Thron der tragischen Muse. Er fand
seinen Dichter in Euripides; er fand
in ihm sein tragisches Opfer. Denn noch
nie ist ein Skeptiker ein so grosser
Dichter geworden wie er; — aber dieser
Verneiner war an der Bejahung gestorben,
an der Bejahung dessen, dem er den
Untergang bereiten half: dem tragischen
Gedanken der Vergangenheit. Er ist der
grosse Versteher geworden in dem Mo-
mente, als er alle Brücken hinter sich
abgebrochen sah. Und da empfand er,
dass sein Leben keine Lieder und keine
Musik gehabt — und es vollzog sich in
ihm der grosse Bankerott seines Lebens.

Es gab wieder Einsame in der
Welt; die Schönheit, nach der früher
übermächtige Arme gegriffen, erstarrte in
der frostigen Welt der Gedanken und der

Aufklärung. Der Dichter war aus den
Gemeinden verwiesen. Und in grossen
Einsamkeiten hörte man plötzlich den
Ruf: Pan ist gestorben! Mit ihm war
eine Welt untergegangen. Die Menschen
trugen nur noch Masken: die Gefühle
wurden heimlich, schamhaft und pervers.
In den Einsamen lebte eine grosse kranke
Sehnsucht, und niemand wusste zu sagen,
wie sie leiden. Es war ein langer Spät-
herbst über die Geister und über die
Welt gekommen: Es gab nichts als
Überreife und Senilität. Wohl hörte man
mitten unter dieser schaurigen Verein-
samung das gelle Lachen der Luciane,
und zwischen welken Blättern, die von
den herrlichsten Bäumen längst abgefallen,
vollführten die Harlekine ihre tollsten
Sprünge, aber das war das traurige
Gelächter eines wüsten Todtenmahls.
Zenons düsterer Geist begann seine
dunklen Schatten auszubreiten. Plötzlich
schien die Welt von Asche und Schutt
und wandelnden Skeletten erfüllt. Es war
die grosse Opferstimmung gekommen und
eine grosse beängstigende Stille. Du sollst
nicht lieben, Du sollst nicht hassen,
peinige Dich! So scholl es allerorten.
Man hatte nicht mehr die Kraft zu leben
und hatte auch nicht mehr die Kraft zu
leiden. Die Menschen glichen ausgehöhlten
Bäumen, die alle Triebkraft verloren.
Eine Cultur drohte unterzugehen,
die Cultur der Seligkeit. Was man
noch fühlte, das waren Gefühle, die
Runzeln hatten. Epikur wurde geschändet
und Sokrates hatte längst den Schierlings-
becher leeren müssen. Es war nicht das
Nirwana des Buddha; es war das
grosse Sterben ohne Schönheit
.
Und in Rom lachten die klugen Erben.
Denn die Barbarei stand bereits vor den
Pforten Griechenlands.

In Syrakus aber lebte ein Jüngling,
wie er fast jedem Jahrhundert und jedem
Volke als Symbol ewiger Jugend ge-
schenkt wird, einer jener Jünglinge, die
erdichtet werden, wenn sie nicht er-
scheinen. Er hiess Theokrit. Man kann
seine Biographie nicht schreiben, die Ge-
schichte seines Lebens ist nicht festzu-
stellen, so wenig wie diejenige der Dichter
von Volksliedern. Er hatte es verstanden,
die Leiter, die zu ihm hinaufführt, weg-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 386, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-16_n0386.html)