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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 387

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MENKES: THEOKRIT.

zuziehen. Seinem Leben war es beschie-
den, so sehr das Leben seiner Zeit zu
werden — wie sollte es sein eigenes sein?
Er wollte seinem Martyrium kein ewiges
Denkmal setzen; er wollte das Symbol
der grundlosen Heiterkeit werden. Er
war ein Märtyrer, er musste die Heimat
verlassen, er musste in der Fremde kleine
Künste der Diplomatie spielen lassen und
seelenlos besang er in der Fremde die
Parvenüs der Throne, er, der die Höfe
und Städte und Steinpaläste hasste. Er
musste seiner Muse eine Ruhestätte suchen.
Und gleich der Sonne hatte seine Seele
ausgebrannte Stellen, denn hinter ihm
wandelten die Schatten. Die Tragödien,
die er zu schaffen versuchte, hatten abge-
brochene Spitzen; seinem Polyphem gibt
er den kleinen Trost der Liebelei für seine
grosse thränenreiche Liebe. Es ist, als ob
da ein nüchterner Soldschreiber zu einem
grossen tragischen Torso hinzugedichtet
hätte. Aber er hatte der Welt eine andere
Cultur zu bringen, als diejenige des
Äschylos und Sophokles. Er war der Ein-
zige seiner Zeit, der den Homer verstanden
hatte. Seine Weisen wollte er singen, denn
er war von seiner Sonne bestrahlt. Die
Freude an den Dingen und an den
Formen wollte er wiederbringen
,
die Freude an den Überlieferungen. Daher
die grosse Zärtlichkeit, die er selbst für
die unscheinbarste Sache hat; er verweilt
mit derselben Liebe bei der Formschön-
heit eines Gefässes, wie andere Dichter
bei den Einzelzügen eines Helden ver-
weilen.

Jawohl, die Sonne Homers umleuchtet
seine Welt, aber seine Welt ist eine andere
als die Homers. Wohl waren die Götter
todt und die Helden, aber noch war die
Natur nicht entvölkert; noch gab es den
lockenden Gesang der Sirene und das
zauberhafte Spiel der Nymphe in Mond-
scheinnächten. Noch waren Satyren und
Faune aus den Urwäldern nicht ver-
scheucht. Aber es gab noch mehr: die
grosse Sorglosigkeit lebte noch bei den
Landleuten, noch kannten einsame Hirten
das frohe Lied und das zaubervolle Ge-
tön der Syrinx. In dieser Welt war noch
das grosse Lachen, die heitere Sinnlich-
keit, die sich dahingibt, wie der Fluss
dem Meere sich hingibt. Da lebte noch

alle Anmuth, da gab es Tage, die wie
Ein Tag sind, und die kluge Thorheit,
die sich nicht besinnen will.

Theokrit entdeckte die Natur; es fielen
die Schleier von ihr wie vom Gesichte
einer Braut. Er küsste sie, denn auch er
stand plötzlich, aller Schuld und aller Ver-
gangenheit frei, ihr gegenüber. Er kommt
als seliger Empfänger. Aber stark fühlt
er sein Menschenthum, es ist ein »Ich«
und »Du« in seinem Verhältnisse zur
Natur. Er will sich nicht auflösen, er
kennt kein Einswerden, keinen Pantheismus.
Das Rauschen der Wälder ist ihm kein
Echo einer Klage; seine Stimmung färbt
nicht ab; er übersetzt die Natur nicht in
seine eigene Sprache; er lauscht auf die
ihrige. Sie ist ihm wie ein unberührtes
Mädchen, die Incarnation aller Heiligkeit.
Nicht furchtsam kommt er zu ihr und
nicht mit der beklemmenden Ahnung ver-
schleierter Geheimnisse; er schaut ihr
ruhig ins Gesicht, er reicht ihr vertrauens-
voll die Hände. Welchen Weg Du immer
mich hinführen wirst, Du geleitest mich
ja; und was immer Du mir verhüllen
willst, siehe, ich selbst bin ja Dein tiefstes
Geheimnis. Was soll ihm die Natur er-
zählen? Was soll eine Mutter vom Kinde
sagen, das sie unter dem Herzen trägt?
Es ist, als ob ihm die Welt plötzlich ohne
Sünden wäre, ein Paradies, aus dem man
nicht vertrieben werden kann. Und auch
die Mühseligsten haben goldene Träume,
und auf kleines Thun senkt sich ein grosser
Strahl der ewigen Schönheit.

Mit diesen Augen, die jung geworden
sind und sehend und staunend, wie die-
jenigen eines sinnenden jungen Mädchens,
kommt er in die Stadt. Er belauscht in
seinem »Adonisfeste« die Anmuth der
Frauen, wie sie eine vollendete Cultur ge-
reift und das Leben zwischen vier Wänden,
kleine und grosse Menschlichkeit. Er wird
ein sorgloser Flaneur durch die Welt.
Hie und da trifft ihn ein Schrei der
grossen Leidenschaft, und es ist, als be-
ginne eine alte Saite, die lange verstummt
war, plötzlich in ihm zu tönen (»Die
Zauberinnen«). Im Scheine lodernder
Flammen steht plötzlich das Leben,
Flammen, die sich selbst verzehren. Mit
fragendem Gesichte stehen die Probleme
da — wird ein Stück Welt krachend zu-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 387, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-16_n0387.html)